16.07.1994

„Haftbedingungen nicht menschenwürdig“

Betr.: AZ-Bericht vom 13. Juli: Krumsiek: „Häftlinge human untergebracht“

„Am 13. Juli ließ der Minister für Justiz des Landes Nordrhein-Westfalen über die Medien verbreiten: „Abschiebehaft ist menschenwürdig“. Der Flüchtlingsrat Nordrhein-Westfalen stellt dazu fest, dass er die Inhaftierung von jährlich weit über 10.000 Menschen ausschließlich aus verwaltungsrechtlichen Gründen nicht als „menschenwürdig“ ansehen kann.

Dazu tragen auch die tatsächlichen Haftbedingungen bei: Menschen täglich knapp 23 Stunden in unverschlossenen Räumen festzuhalten, nur weil zum Beispiel keine Passpapiere erhältlich sind oder weil die Ausländerbehörde jederzeit Zugriff auf den Flüchtling haben möchte, stellen nach Auffassung des Landesflüchtlingsrates eine ungeheuerliche Missachtung der Menschenwürde dar.

Nach Angaben des Justizministeriums Nordrhein-Westfalen sind 98 Prozent der aus verwaltungsrechtlichen Gründen inhaftierten Menschen keine Straftäter. Nach Auffassung des Landesflüchtlingsrates könnten sie ohne weiteres in ihren bisherigen Unterkünften auf ihre Ausreise warten. Stattdessen wurden allein in den letzten zwölf Monaten hunderte von Millionen Mark an Steuergeldern durch das Land Nordrhein-Westfalen für Einrichtung, Umbau und Unterhalt von sogenannten Abschiebehafthäusern in Nordrhein-Westfalen ausgegeben, mit deren Hilfe Menschen aus reinen Verwaltungsgründen die Freiheit entzogen wird.

Der Flüchtlingsrat Nordrhein-Westfalen hat eine Koordinationsgruppe für Abschiebehaft und Abschiebehafthäuser in Nordrhein-Westfalen eingerichtet, die noch im Juli eine umfassende Dokumentation zum Thema Abschiebehaft herausgeben wird. Darin wird ausführlich das gesamte System der Abschiebehafthäuser dokumentiert. Die Dokumentation gibt umfassende Auskünfte über Abschiebehaft und Menschenwürde.

Nach Angaben der Leiterin der Koordinationsgruppe des Flüchtlingsrates Nordrhein-Westfalen, Margret Müller, Dülmen, sage die durchschnittliche Verweildauer in den Abschiebehaftanstalten nichts darüber aus, wie lange Menschen tatsächlich hinter Gitter festgehalten würden. Entscheidend sei der hohe Anteil der Menschen, denen bis zu 18 Monate die Freiheit entzogen würde. Darunter seien nicht nur Menschen aus afrikanischen Ländern, sondern vor allem auch Flüchtlinge aus der ehemaligen Sowjetunion, dem ehemaligen Jugoslawien und einigen asiatischen Ländern. Bei diesen Menschen seien Aufenthalte von sechs bis achtzehn Monaten im Hafthaus keine Seltenheit. Diese Menschen würden, so Margret Müller, auf der Grundlage des deutschen Ausländergesetzes ins Gefängnis gesteckt, um auf die Möglichkeit ihrer Abschiebung zu warten. Das bedeute, dass sie auf eine Verwaltungsmaßnahme warteten.

Wie aus vielen Gesprächen mit Inhaftierten hervorgehe, seien die meisten der einsitzenden Menschen nicht bei Razzien, sondern bei Straßen- oder Bahnhofskontrollen, bei der Ausländerbehörde selbst oder sogar beim Besuch des Sozialamts festgenommen worden. Einige inhaftierte Flüchtlinge haben in den Medien ihre Behandlung, „wie die eines Tieres“ bezeichnet. Ihre Situation ist äußerst problematisch. Es gibt keine Dolmetscher oder Rechtsbeistände (Nur Straftäter haben Anspruch auf einen Pflichtverteidiger). Menschlicher Zuspruch ist so gut wie ausgeschlossen. Betreuung, Arbeit- und Beschäftigungsmöglichkeiten gibt es so gut wie gar nicht (Nur Straftäter dürfen, „Tüten kleben“). Die Angst der Menschen vor dem was sie bei ihrer Rückkehr in ihrer Heimat erwartet, ist in vielen Fällen berechtigt und erklärt die in allen acht Haftanstalten immer wieder vorkommenden Aktionen. Unter diesen Umständen ist es nicht verwunderlich, wenn auch das Personal der Haftanstalten, ohne angemessene Vorbereitung in die Haftanstalten abgestellt, oder in schwer zu bewältigen Konfliktlagen geraten.

Es bleibt erheblicher Zweifel ob die Unterbringung in den acht Abschiebehaftanstalten in Nordrhein-Westfalen - in Büren, Coesfeld, Gütersloh, Herne, Leverkusen, Moers, Neuss und Wuppertal - menschenwürdig sein kann. Einem Abschiebehäftling steht in der Regel circa vier Quadratmeter  Raum zur Verfügung. In der gleichen Zelle sind noch bis zu sieben weitere ausländische Leidensgenossen mit eingekerkert. Die Zelle darf nur für eine Stunde Hofgang am Tag und zweimal die Woche zum Duschen verlassen werden. Besuche von außen sind nur ein bis zwei Stunden im Monat erlaubt. So sind die Aussagen von einer großen Zahl Betroffener, dies sei eine entehrende und unwürdige Behandlung, durchaus verständlich.

Alle getroffenen bzw. geplanten Maßnahmen für Abschiebungshaft, wie Durchführung von Sprechstunden durch die zentralen Ausländerbehörden oder Einsatz von Sozialarbeitern, sind nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Sie täuschen nicht darüber hinweg, dass der Gesetzgeber die Möglichkeit geschaffen hat, Menschen die Freiheit zu entziehen, um einen Verwaltungsakt möglichst bequem und ohne den „lästigen“ Faktor „Mensch“ abzuwickeln.“

Wolfgang Müller, Flüchtlingsrat Kreis Coesfeld, Postfach 1437, 48235 Dülmen