18.01.2023

„Mahnen Vorgehensweise an“

Moment mal hat das Ausländeramt Armenier in Abschieben-Falle gelockt?

Von Carolin Cegelski

Lippstadt. Als Nadr Nadoyan am 27. September das Ausländeramt Lippstadt betritt, rechnet er nach Angaben seiner Familie nicht damit, dass sich sein Leben an diesem Tag grundlegend verändern wird: Vor Ort, um sich seine Duldung ausstellen zu lassen, wird er im Ausländeramt von der Polizei verhaftet, zum Amtsgericht gebracht und von dort aus zur Abschiebehaftanstalt nach Büren. Am 5. Oktober wird er nach Armenien abgeschoben. Die Abschiebung beschäftigt in Lippstadt viele Menschen. Familie, Anwalt und das Netzwerk für Frieden und Solidarität fragen sich: Warum wurde Nadr Nadoyan abgeschoben? Aus welchem Grund musste es eine Einzelabschiebung sein? Hat das Amt den Armenier in einer Abschieben-Falle gelockt? Eine Spurensuche.

Das ist passiert

Dienstag 27. September: „Mein Vater hatte im Voraus einen Termin bei der Ausländerbehörde Lippstadt vereinbart“, sagt Ibrahim Nader Rashid, mit 19 Jahren der älteste Sohn der Familie. Morgens um 9:00 Uhr soll sein Vater der bislang eine „unbefristete Aufenthalts Niederlassungserlaubnis“ hatte, seine Duldung und die Beschäftigungserlaubnis abholen - „ein Hinterhalt „, ist Ibrahim Nader Rashid überzeugt. „Acht bis zehn Polizeibeamte“ seien aus dem Nebenraum gekommen, um Nadr Nadoyan festzunehmen - „einen vorläufigen Haftbefehl umzusetzen“, wie Hermann Weische, Fachanwalt für Migrationsrecht in Köln, sagt.

Der 72-jährige sei an diesem Tag durch den zuständigen Richter des Amtsgerichts Lippstadt informiert worden und habe sich zur Anhörung auf den Weg in die Lippe-Stadt gemacht. Die Anhörung wird auf den nächsten Tag verschoben, sein Mandant in die Abschiebehaftanstalt nach Büren gebracht. Dort bleibt er bis zum 5. Oktober: „Die Abschiebung ist um 20 Uhr erfolgt“, sagt der Rechtsanwalt der Familie. Nadr Nadoyan wird nach Düsseldorf gebracht. Drei Polizeibeamte fliegen mit ihm über Wien nach Eriwan (Armenien), schildert Weische. Dort übergeben sie den 42-jährigen an die Beamten der Flughafenpolizei. Nach „mehrstündiger Vernehmung“ habe sein Mandant gehen dürfen. Ein ehemaliger Schulfreund habe Nadoyan bei sich aufgenommen.

Das bedeutet die Abschiebung für die Familie

Seit 20 Jahren lebt die Familie mit jesidischen Wurzeln in Lippstadt. Nadr Nadoyan und seine Frau Gayane Khundoyan haben in der Lippe-Stadt eine Familie gegründet und vier Kinder bekommen: Ibrahim, Leyla, Gyulperi und Hamid. Letzterer geht in Lippstadt zur Schule, die älteren Geschwister arbeiten. Leyla besucht in Duisburg einen Meisterlehrgang, wird vom Vater finanziell unterstützt. Gyulperi ist jüngst Mutter geworden - sie hat Zwillinge zur Welt gebracht.

Seit der Abschiebung des Vaters steht die Welt der Familie Kopf: „Seitdem mein Vater weg ist, liegt alles auf meinen Schultern“, sagt Ibrahim, der in Münster arbeitet. Seine pflegebedürftige Oma, Nadrs Mutter, muss versorgt werden. Es ist eine Aufgabe, ……… den Großteil des Lebensunterhalts der Familie bestritten hat, liebevoll gekümmert habe. Anspruch auf Sozialleistung hatte die Familie bislang nicht - jetzt müssten Anträge gestellt werden, um den Lebensunterhalt zu stemmen.

Die Familie selbst wisse nicht, warum Nadr Nadoyan abgeschoben wurde: 2016 sei er aus einer finanziellen Notlage heraus auf die schiefe Bahn geraten. Nadoyan hat gegen das Betäubungsmittelgesetz verstoßen, mit Betäubungsmitteln gehandelt. 2018 wurde er deshalb vom Landgericht Duisburg zu einer Freiheitsstrafe verurteilt. Zwei Jahre und drei Monate war er deshalb im Gefängnis. Die Strafe ist verbüßt. Den Vorfall will die Familie nicht schönreden.

Danach habe der Vater einen Neustart gewagt, sich eine Arbeit gesucht, eine Festanstellung bekommen. Bei dem heimischen Unternehmen sei man begeistert gewesen: „Wir würden ihn sehr gerne behalten“, heißt es in einem Schreiben der Firma. „Mein Mandant hatte eine super Sozialprognose“, sagt Hermann Weische auch mit Blick auf das Hauptthema der Strafvollzugs - die Resozialisierung“.

Für Nadr Nadoyan gebe es mit der Abschiebung in Deutschland keine Perspektive mehr. Er dürfe nicht mehr einreisen. Ob er seine Familie jemals wiedersehe - ungewiss. Um überhaupt die Chance für eine Einreise zu bekommen, müsste er die Kosten für seine Abschiebung begleichen. Das Geld werde die Familie „niemals“ aufbringen können. Ein Besuch sei ebenfalls „völlig ausgeschlossen“: Die Söhne der Familie die wie ihr Vater, lange Zeit unter Angabe falscher Personalien in Deutschland …… Standesamt in Lippstadt eine richtige Geburtsurkunde beantragen, würden in Armenien zum Wehrdienst eingezogen, obwohl sie in Deutschland geboren wurden.

Darum hat sich das Netzwerk für Frieden und Solidarität eingemischt

Das Netzwerk für Frieden und Solidarität ist über die Sozialarbeiterin der Kopernikusschule auf den Fall  Nadoyan aufmerksam geworden. Sie hatte sich im September bei dem Team gemeldet, weil Hamid, der 16-jährige Sohn der Familie keinen guten Eindruck auf sie gemacht habe, schildert Sprecher Michael Tack. „Sie war in großer Sorge.“

Nach einem Treffen mit der Sozialarbeiterin und einem Telefonat mit dem Anwalt der Familie schreibt das Netzwerk einen Brief an den Bürgermeister. Darin mahnen sie die „Vorgehensweise der Ausländerbehörde auf das schärfste an“. In einem Gespräch wollen Sie die Umstände klären und mit Blick auf die psychische Gesundheit des jüngsten Sohnes nach einer „konstruktiven Lösung“ suchen - etwa einer freiwilligen Ausreise. Nadr Nadoyan, „kein Gewalttäter und kein Gefährder“, sei laut Tack dazu bereit gewesen, diesen Schritt zu gehen.

Der Brief wird der Verwaltung mit der Post zugestellt. Michael Tack und Bea Geisen übergeben das Schriftstück außerdem persönlich an Bürgermeister Arne Moritz. Sie hätten nur eine schwammige Erklärung für die Abschiebung bekommen: „Ein Vorfall in der jüngsten Zeit habe die Stadt gezwungen, so zu handeln“, erinnert sich Tack an den Wortwechsel. Welcher Vorfall das gewesen sein soll - das Wissen weder die Familie noch der Anwalt. „Uns ist bewusst, dass Herr Nadoyan durch seine Straftat aus dem Jahr 2016 das Recht auf einen Aufenthaltstitel verwehrt hat, nicht aber auf Duldung im Familienkreis“, sagt Michael Tack. „Wir haben aber kein Verständnis dafür, dass eine Einzelabschiebung durchgeführt wurde, obwohl für Oktober eine Sammelabschiebung nach Armenien angekündigt war.“

Vor allem die Vorgehensweise stoße dem Netzwerk sauer auf: Nadr Nadoyan sei „offensichtlich mit einer Lüge in die Ausländerbehörde vorgeladen und dann wie ein Schwerverbrecher von der Polizei festgenommen worden. Das ist ein Verhalten, das eines Rechtsstaates unwürdig ist“, ist Michael Tack überzeugt.

Die Vorgehensweise sorgt bei Bea Geisen auch in ihrer Funktion als Beraterin beim Awo-Jugendmigrationsdienst für Unverständnis. „Wir haben viele Menschen und Familien die oft mit Briefen von der Ausländerbehörde zu uns kommen“, sagt sie. „Wenn es publik wird, wissen wir: Es gibt viele Menschen in Lippstadt, die Angst haben.“ Diese Abschiebung sei ein „Signal“, dass etwas auslösen könne: „Wohin kann das führen: Tauche ich ab und gehe in die Illegalität, um nicht abgeschoben zu werden? Das mag ich mir gar nicht ausmalen“, sagt Geisen. „Unter Vortäuschung einer falschen Handlung geht jemand unbedarft zum Ausländeramt und wird verhaftet. Ist das rechtsstaatlich?“

Das sagt der Anwalt der Familie

Um die Abschiebehaft zu verhindern, ist Hermann Weische von Köln aus zwei mach Lippstadt gefahren. Er begleitet die Familie seit dem vergangenen Jahr.

„Es geht mir um eine Herzensangelegenheit“, sagt der Fachanwalt für Migrationsrecht. „Es geht um existenzielle Probleme von Menschen. Hier hängt eine ganze Familie daran. Hier tue ich alles, was ich tun kann.“ Weische verweist im Gespräch auf das Leitbild des deutschen Grundgesetzes: „Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen.“

Der Rechtsanwalt will der Angelegenheit weiter auf den Grund gehen: „Ich versuche, jede Abschiebung zu vermeiden“, sagt er. „Wenn sich herausstellt, dass der Aufenthalt rechtlich nicht gesichert werden kann, dann bitte keine Abschiebung“, plädiert er im Sinne des Angeklagten und spricht sich für eine „freiwillige Ausreise“ aus. Sie könne in Ruhe organisiert werden. Die betreffende Person erhalte über die Internationale Organisation für Migration (IOM) finanzielle Unterstützung, um sich im Herkunftsland wieder integrieren zu können. Zudem besteht die Möglichkeit, zurückzukehren - ohne mit „hohen Abschiebungskosten“ belastet zu sein.

„In diesem Fall sind durch die besondere Art und Weise der Abschiebung, und zwar völlig überraschend, besonders hohe Abschiebungskosten entstanden“, ist Weische überzeugt. Er rechnet mit mindestens rund 30.000 Euro. Allein pro mitreisenden Beamten würde ein Betrag in Höhe von 4927,50 Euro fällig. Dazu kämen noch die Kosten für den Transport nach Büren, die Unterbringung in der Abschiebehaft, die Fahrt nach Düsseldorf. „Das zahlt die Stadt Lippstadt.“

Auch Weische treibt die Frage um: Warum wurde Nadr Nadoyan abgeschoben? War die Abschiebehaft rechtmäßig oder rechtswidrig? „Der Sache gehe ich auf den Grund.“ Der Anwalt ist überzeugt: „Es lohnt sich, den Dingen nachzugehen - auch wenn es etwas länger dauert.“

Mittlerweile hat ihm das Landgericht Paderborn recht gegeben: Die Rechte seines Mandanten sein während der Abschiebehaft verletzt worden. Das geht aus dem Beschluss hervor, der unserer Redaktion vorliegt. Die Stadtverwaltung muss die Kosten für das Verfahren tragen - 5000 Euro.

Die Sicht der Stadt

Die Stadt Lippstadt will sich zu dem Fall nicht äußern. Auf Patriot-Anfrage verweist Stadtsprecherin Julia Köller darauf, dass die Verwaltung „zu Einzelfällen aus datenschutzrechtlichen Gründen keine Auskünfte erteilt“. Auch zu den Kosten die der Stadt durch die Einzelabschiebung entstanden sind, macht die Stadt keine Angaben. Nur so viel: Die Kosten richten sich nach „verschiedenen individuellen Faktoren“ - von der Entfernung bis hin zur benötigten Begleitung (etwa mit der Polizei oder medizinischem Fachpersonal). „Die Kosten resultieren immer aus der Besonderheit des Einzelfalls“, so Köller. Auch die Umstände der Abschiebung sein immer individuell. „So etwas passiert nicht einfach so.“

Abgeschoben nach Armenien: Nadr Nadoyan, der seit rund 20 Jahren Lippstadt lebte, wurde im Oktober 2022 abgeschoben. Warum? Unklar. Foto:DPA