01.12.1995

„Warten macht krank“

Flüchtlinge

Spiegel-Redakteurin Barbara Supp über die Abschiebehaft in Büren

Seit gut drei Wochen startet er jeden Tag auf diese Stockbetten, die blau-weiß karierte Bettwäsche, die dösenden Mitgefangenen, das Fenster mit den Gittern dahinter, die Stahltür mit Schloss. Das ist eine Zelle. Das ist der Knast.

Ali El Moujahid denkt oft an jene Nacht vom 22. auf den 23. Juni zurück: Sie standen auf einem Rastplatz bei Solingen, sein Vetter und er, mit den beiden Autos, die sie gekauft hatten, um sie daheim mit Gewinn wieder loszuwerden. Sie wollten noch mal durchschlafen vor der Rückfahrt über Spanien nach Marokko, sagt er.

Morgens hämmerte jemand gegen die Wagentür. Worum es ging, war ihm nicht recht klar, dazu verstand er zu wenig Deutsch und der Uniformierte draußen zu wenig Arabisch, Spanisch oder Französisch. Jedenfalls steckte der marokkanische Student kurz darauf in einer Zelle. Besonders erniedrigend fand er es, dass sich der Schlüssel nicht nur einmal im Schloss drehte, sondern zweimal.

Sie hatten doch Papiere für die Autos, sie hatten sie ganz legal erworben. Sie hatten auch Papiere für sich selbst, Arbeitsvisa für ihre Ferienjobs in Spanien. Nur die Stempel für Deutschland fehlten, aber das, hatte ein freundlicher Herr im deutschen Konsulat von Malaga gesagt, sei kein Problem. Schließlich sei jetzt alles EU. Bloß kurz nach Deutschland und dann zurück nach Marokko, weil im September an der Uniprüfungen sind - das war der Plan.

Er habe doch nichts verbrochen, hat El Moujahid, 21, ständig gesagt, bis er begriffen hat: Hier ist das normal. Wer hier sitzt, hat kein Strafprozess hinter sich, kein Ankläger hat ihn belastet, einen Verteidiger gab es nicht. Wer hier sitzt war nur zur falschen Zeit am falschen Platz. Dass hier ist Büren, Deutschlands größter Abschiebeknast.

Für Flüchtlingsinitiativen und ehrenamtliche Gefangenenbetreuer ist dies ein Symbol der Unmenschlichkeit - ein Ort, an dem der Rechtsstaat Unschuldige wie Straftäter verwahrt.

Die Bürener Kommunalpolitiker aber waren ganz zufrieden, als das Düsseldorfer Justizministerium vor gut zwei Jahren beschloss, dass die ehemalige Kaserne draußen im Wald zur Abschiebehaftanstalt umgebaut werde. Es hätte, so fanden sie, viel schlimmer kommen können:  „Mit mehr oder weniger Freude“, verkündete der CDU-Fraktionsvorsitzende Reinhold Hörster, habe er „zur Kenntnis genommen, dass kein offenes Lager entsteht“.

Das Gefängnis Büren

bei Paderborn ist die größte Abschiebehaftanstalt in Deutschland. Ausländer sitzen hier oft monatelang, ohne eine Straftat begangen zu haben. Manche verschweigen ihre Identität aus Angst; andere können nicht abgeschoben werden, weil das Herkunftsland die Papiere nicht bereitstellt. Mindestens 20 der Häftlinge, so die Flüchtlingshilfsorganisation „Pro Asyl“ haben sich seit Herbst 1993 umgebracht. Vergangene Woche erhängt sich ein Nigerianer im Gefängnis Wolfenbüttel.

Das ist nichts, was das Stadtbild stört. Die Gefangenenbusse der Ausländerbehörde fallen nicht weiter auf, und meistens verkehren sie ohnehin nachts. Ein schlichtes weißes Schild weist auf diese Justizvollzugsanstalt hin, die 8 km außerhalb im Stöckerbuscher Forst versteckt ist.

Die weiße Mauer drumherum ist aus geriffeltem Beton, fünfeinhalb Meter hoch und gut 700 m lang; Videokameras sichern das Gebäude, ferngesteuerte Türen in der Eingangsschleuse, Metalldetektoren. Drin stehen die Backsteinkasernen, ein weiterer Zaun reigelt einen Sportplatz auf dem Hof ab. Seit Januar 1994 werden hier illegal eingereiste Ausländer interniert, abgelehnte Asylbewerber ohne Papiere und solche, von denen die Behörde glaubt, dass sie untertauchen wollen.

Zwei bis drei Wochen nur, sagt der damalige Düsseldorfer Justizminister Rolf Krumsiek bei einem Einweisungsbesuch in Büren, sollten die Ausländer in der JVA verbringen - ein naiver Wunsch. Eifrig beantragen Ausländerbehörden Abschiebehaft, bereitwillig unterschreiben Amtsrichter die Haftbefehle oder die Verlängerung nach drei oder sechs Monaten; bis zu 18 Monate Haft lässt die Rechtslage zu. Nicht nur in Büren, in der ganzen Republik sitzen Menschen, die nicht straffällig geworden sind, manchmal länger ein als verurteilte Diebe oder Räuber.

In seinem hellen Büro mit den freundlichen Aquarellblumen an der Wand, dem Wasserspiel auf dem Schreibtisch und dem Blick auf die Gefängnisakte sitzt Direktor Peter Möller, 55, und schaut hilflos drein. Doch, selbstverständlich kennt er El Moujahids Geschichte. Er kenne viele solcher Geschichten. Aber er ist es ja nicht, der beschließt, dass die Leute hier eingesperrt werden.

219 Häftlinge hat er momentan im Gewahrsam, das ist nicht viel. Es wird noch gebaut; bis zu 600 Menschen, das ist die Planung, soll Büren unterbringen können. 60 Tage bleibt ein Häftling durchschnittlich- „aber das sagt nichts aus“, wie Möller sehr wohl weiß. Bei Polen oder Rumänen fährt der Abschiebebus der Ausländerbehörde schon nach ein paar Tagen vor: „Die drücken den Schnitt.“ Wer aus Algerien oder Indien stammt, sitzt manchmal mehr als ein Jahr. Diese Länder verschleppen den Prozess, stellen die nötigen Papiere für die Abschiebung nicht aus.

Eigentlich, so will es das Ausländergesetz, muss ein Häftling freigelassen werden, wenn die Abschiebung voraussichtlich „nicht innerhalb der nächsten drei Monate durchgeführt werden kann“. Aber wer definiert schon, was wahrscheinlich ist? Der Direktor doch nicht.

Es ist nicht einfach für einen, der in seiner Zelle liegt, Schuldige zu finden. Niemand ist schuld. Politiker machen nur Gesetze. Verwaltungsgerichte lehnen Asylanträge ab. Ausländerbehörden stellen Haftanträge. Die Justizbehörden verwahren die Menschen, im Auftrag des Innenministeriums. Ausländerbeamte bringen die Häftlinge nach Büren und holen sie irgendwann wieder ab, um sie zum Flughafen zu transportieren. Dort übernimmt dann der Bundesgrenzschutz den Fall.

Der Häftling Jat weiß das längst: irgendwann holen sie auch ihn. Freilich denkt er, wenn es geht, nicht daran. Seit fast einem Jahr ist der stille Inder in Büren, und er hat sich, auch weil er sonst wohl durchdrehen würde, einen Job in der „Kammer“ beschafft.

Jeden Tag lässt er sich aus der Zelle begleiten von einem Vollzugsbeamten oder einem der privaten Wachleute, die hier angestellt werden, weil sie billiger sind. Sie führen Jat dann zu einem Raum im Empfangstrakt, an dessen Tür ein leicht verblasster Zettel hängt: „Bitte anklopfen. Sie treffen hier auf nackte Menschen.“

Hier kommen die neuen an, gleich nachdem sie registriert und fotografiert worden sind. Von Jat kriegen sie die Anstaltskleidung: Jeans, blaue Polohemden, im Winter Blaue Pullover. Jeden Tag blickt er in die Gesichter, sieht manchmal Empörung, wie bei Ali El Moujahid, manchmal aufgesetzte Gleichgültigkeit, manchmal Angst. Panik. Jat kennt das Gefühl.

Es sei wichtig, sagt er, „einen richtigen Job zu haben.“  Sieben bis acht Mark verdient er pro Tag. Wer nicht arbeitet, kriegt bloß 1,50 DM Taschengeld, und Jat weiß, dass er das Geld noch brauchen wird in Indien. Vielleicht hängt sein Leben davon ab. Außerdem tut es gut, nicht dauernd in der Zelle zu liegen, sagt Jat: „Das Warten macht dich krank.“ Man schlaffe ab oder verzweifle völlig an der schizophrenen Situation, in der man steckt: „Nichts wie raus hier. Aber dann?“

Wer eine Straftat verbüßt hat, kann sich auf die Freiheit freuen. Jat nicht. Er gehört zur religiösen Minderheit der Sikhs, und zur Zeit häufen sich Meldungen aus Indien, wonach abgeschobene Flüchtlinge aus Deutschland gleich am Flughafen abgegriffen werden. Wer dem Polizisten nicht 300 DM Schmiergeld zahlen könne, haben Inder berichtet, der Lande im Knast. Dort ist Folter normal. Manche haben sie nicht überlebt.

Normalerweise haben abgeschobene Flüchtlinge nur bis zu 150 DM in der Tasche; was sie sonst noch besaßen, geht für die Kosten der Abschiebung drauf. Weil Jat Inder ist, darf er jetzt wenigstens      500 DM mitnehmen, das hat die Düsseldorfer Landesregierung bestimmt.

Vielleicht schafft er es damit, am Flughafen durchzukommen. Dann wird er in sein Dorf zurückkehren, und „am Anfang“, glaubt er, „wird alles in Ordnung sein“. Dann wird es sich herumsprechen: Jat ist wieder da. Irgendwann wird die Polizei vor der Tür stehen. Dann verschwindet er vielleicht, „wie mein Bruder. Der kam nie mehr zurück“.

Manchmal, das gibt Direktor Möller zu, verschaffe ihm sein Job Beklemmung, „Bauchschmerzen“ sogar. Was er tun könne, sei lediglich, es den Gefangenen „ein bisschen nett zu machen“, sagt er und hat gleich wieder Angst, dass könne bekannt werden - viele Bürger, glaubt er, wann so etwas nicht gerne.

In Büren, und vielleicht ist das ja schon ein Grund, stolz zu sein, hat sich immerhin noch kein Häftling umgebracht; bundesweit hat die Hilfsorganisation „Pro Asyl“ 20 Selbstmorde seit Herbst 1993 registriert. Ein „angenehmer“ Knast? Nein, diese Formulierung verwirft der Direktor dann doch. Von „erträglich“ redet er jetzt, und was er damit meint, führt er gerne vor.

Der neue Besuchstrakt beispielsweise soll als Cafeteria eingerichtet werden. In jeder Zelle steht ein Fernseher, inzwischen sogar mit indischem Programm. Betreuer vom Roten Kreuz bieten Töpfern und Bongo-Trommeln an.

Eine Zelle im Keller, Klo-Loch im Boden reißfeste Matratze

Draußen spielen Häftlinge Fußball, im vergitterten Feld auf dem Hof. In den „Hafthäusern“- das klingt freundlicher als Gefängnis - gibt es im Keller jetzt Krafträume, Kicker, Tischtennis und ein paar Jobs: Eine Gruppe Chinesen montiert Kabel für eine lokale Firma, eine gemischte Abteilung sortiert bunte Aktendeckel und lebt Etiketten darauf. Der Tageslohn reicht für anderthalb Päckchen Tabak.

Ein halbwegs zufriedener Häftling ist ein friedlicher Häftling, aber trotzdem dreht manchmal einer durch. Jene Kosovo-Albaner beispielsweise, den sie immer wieder in den „bgH“ gebracht haben, den „besonders gesicherten Haftraum“: eine kahle Zelle im Keller mit Klo-Loch im Boden und reißfester Matratze und zwei Videokameras die überwachen, was sich tut.

Der Mann wurde vor einem Jahr in Büren gefesselt - wie, das hat er einer Betreuerin beschrieben: Arme auf dem Rücken, Beine verschnürt, Arme und Beine zusammengekoppelt. Von „Folter“ sprechen manche Menschenrechtler bei solcher Behandlung. Zurzeit ermittelt der Staatsanwalt gegen den Direktor, der Vorwurf: „Körperverletzung im Amt“.

Möller bestreitet die Fesselung nicht. Doch das, sagt er, sei „zum Schutz der Gefangenen“ geschehen: Der Mann sei nicht anders zu beruhigen gewesen. Er habe den Kopf auf den Boden und an die Wände geschlagen- „und die Mitarbeiter wussten einfach nicht mehr was sie machen sollten“. Inzwischen, betont der Direktor, komme so etwas nicht mehr vor.

Überraschend freundlich jedenfalls war die Haltung der Gefangenen im Frühjahr, bei der Oster-Revolte, als 43 Häftlinge ein Teil des Hafthauses 1 besetzten. Sie wollten nicht gegen das Personal, sondern gegen ihre Inhaftierung protestieren, gaben die Meuterer bekannt. Sie wollten den Innenminister sprechen, der Direktor nützte ihnen nichts: „Der ist bloß Arbeiter vom Innenminister.“

Nur fand die Revolte am Wochenende statt, sodass kein wichtiger Politiker zu erreichen war; nur rasteten dann doch ein paar Leute ganz aus und steckten die Zelle in Brand, sodass schließlich die Polizei den Raum stürmte, und das Anliegen der Gefangenen wurde nicht erfüllt.

Ein Teil der Botschaft kam offenbar dennoch an. Ein paar Sätze im Koalitionspapier der neuen        rot-grünen Regierung versprechen, dass manches besser werden soll. Wer mindestens acht Jahre in Deutschland lebe, solle nach Prüfung „jedes Einzelfalls“ eventuell bleiben dürfen. Mehr Geld soll es geben: nicht mehr 1,50 DM pro Tag, sondern 80 DM im Monat, so viel wie ein Asylbewerber draußen erhält. Und wer vier Wochen sitzt, das ist das Wichtigste, soll einen Rechtsbeistand bekommen. Jeder Straftäter hat einen Anwalt, aber kaum ein Abschiebehäftling kann sich bisher einen leisten.

Gute Absichten sind das, mehr nicht; auf den Gefängnisalltag wirken sie sich noch nicht aus. Es würde ohnehin wenig nützen. Menschen wie dem mutlosen jungen Afrikaner aus Hafthaus 1 von solchen Plänen zu erzählen: Der Mann glaubt an gar nichts mehr, sagt er. Dabei hat er noch Glück. Er hat einen Anwalt, der von freiwilligen Unterstützern bezahlt wird.

Aber kein Anwalt habe verhindern können, dass sie ihn behandelt, hätten „like an animal“, wie ein Tier. Zusammengesunken sitzt der 26-jährige mit den Rasterlocken auf seinem Stuhl, dem Schreibtisch der stellvertretenden Anstaltsleiterin gegenüber, anfangs ärgerlich, dann wütend und schließlich so verzweifelt, dass er schluchzt.

Sie hätten ihm nicht glaubt, sagt er, dass er Sudanese sei. Er hat keinen Pass aber die Ausländerbehörde hat ihn nach Nigeria geschafft, weil sie glaubte, dass er dorthin gehöre. Er zeigt auf sein Handgelenk: Da, sagt er, hätten sie ihm die Spritze rein gejagt, damit er still hält, und nun fragt er, „is that right? Is that right? “ Nigeria schickte ihm prompt wieder nach Deutschland zurück.

Er sei nicht kooperativ, hat sich die Behörde beschwert. Er brauche bloß der sudanesischen Botschaft die nötigen Informationen zu geben, dann bekomme er die Papiere, dann könne er fliegen. Er habe Angst, sagt der Afrikaner, er sei ein Christ, und die Regierung im Sudan werde im Übles antun. Er wolle kein Anwalt mehr, sagt er, ihm sei alles egal, er wolle nur wissen, „ist hat right? Do you think that is right?“

Fünf Tage später hat Ali El Moujahid, der Marokkaner, Deutschland verlassen dürfen. Es dir zu Hause, es geht ihm gut. Auch der Sikh Jat wurde abgeschoben. Nachrichten über ihn gibt es nicht.

Der Sudanesen sitzt noch in Zelle 112. Bis er Büren verlässt, das kann dauern. Wie lange, weiß kein Mensch.

 

 

Gefängnisdirektor Möller: Manchmal Bauchschmerzen
MarokkanerEl Moujahid: besonders erniedrigend
Häftling vor der Abschiebung, Gepäck: zur falschen Zeit am falschen Platz
Neuankömmling, Bewacher: verwahrt wie Straftäter
Wärter, Häftling: beim Krafttraining im Fitnessraum.
Angst vor dem Abschlaffen

Gefangene bei Kabel-Montage: Tageslohn für anderthalb Päckchen Tabak