19.07.1995

Auch Minderjährige sitzen Abschiebehaft

Schicksale in den Mühlen der Bürokratie

Büren (lz). In eine Abschiebehaftanstalt eingesperrt zu sein, das ist kein leichtes Los. Am schwersten tragen daran Minderjährige. Bis vor wenigen Tagen saßen noch fünf Marokkaner, Algerier und Liberianer unter 18 Jahren in der Bürener Abschiebehaftanstalt. Zwei wurden verlegt, drei betreut zurzeit der Verein zur Hilfe von Menschen in Abschiebehaft.

Der 17-jährige John, der nach eigenen Beteuerungen aus Liberia stammt, ist einer von ihnen. Seit Anfang Mai sitzt er in der Justizvollzugsanstalt Büren (JVA). Irene Blumenthal, Mitglied des Vereins für Hilfe für Menschen in Abschiebehaft, besucht ihn wöchentlich. Sie hat für ihn ein Bürener Elternpaar gefunden, das John adaptieren will. Auf den ersten Blick scheint ein Happy End in Sicht. Doch die bürokratischen Mühlen mahlen noch.

Zunächst muss das Vormundschaftsgericht feststellen, dass John wirklich Waise ist. Er gibt an, seine Eltern seien bei einem Massaker ermordet worden. Doch Beweise hat er dafür nicht. Die deutschen Ausländerbehörden glauben ihm noch nicht einmal, dass er Liberianer ist. Zweimal ist es deswegen schon in der liberianischen Botschaft vorgeführt worden. Doch beim letzten Mal wusste er nicht, in welchem County (Land) die Hauptstadt (Monrovia) seines vermeintlichen Heimatlandes liegt. Für das Botschaftspersonal ein untrügliches Zeichen, dass er nicht Liberianer ist. Irene Blumenthal hingegen glaubt ihm, und hält ihn nur für einen „einfachen“ Menschen mit geringer Schulbildung, der zudem noch vom anderen Ende Liberias stammt.

Wie Irene Blumenthal in Telefongesprächen mit der zuständigen Ausländerbehörde erfahren hat, trifft die deutsche Bürokratie für eine möglichst baldige Abschiebung ein. Der Asylantrag ist bereits als „offensichtlich unbegründet“ abgelehnt worden, und die Sachbearbeiterin hält eine Abschiebung für angemessener als eine Adoption. Für Irene Blumenthal mal wieder ein Fall, in dem der Ermessensspielraum gegen den Flüchtling genutzt wird.

Johns Zukunft ist also ungewiss und liegt im bürokratischen Dickicht verborgen. Ein Geranke aus Gesetzen, Verordnungen und Vorschriften, dass der junge Afrikaner nicht durchschauen kann. Er hat Mühe die Abschiebehaft ohne dauerhafte Bezugsperson durchzustehen. Am Horizont zeichnet sich eine Abschiebung mit provisorischen Ausreisepapieren nach Nigeria ab.                            > Das Porträt

Zur Gefangenenbetreuung fand sie im März 1994 durch eine Informationsveranstaltung der Caritas im Bürener Pfarrheim. Dort hatte der Leiter der Abschiebehaftanstalt Bürger aufgefordert, Gefangene zu besuchen. Irene Blumenthal schloss sich daraufhin dem damals gegründeten Verein an. Der hat heute rund 70 Mitglieder, von denen 20 aktiv sind.

„Ich lehne unterschiedliche Behandlung von Deutschen und Ausländern ab. Jeder hat das Recht, dort menschenwürdig zu leben, wo er gerade ist.“ Das sind die moralischen Beweggründe, die Irene Blumenthal für ihre Arbeit nennen. Grundsätzlich ist sie gegen Abschiebehaft. Unbehagen bereitet ihr der Gedankengang, dass ihre Arbeit reibungslose Abschiebehaft erst möglich macht. Doch erreicht worden sei im ersten Jahr des Vereins auch eine Humanisierung der Haftbedingungen.

Was sie selbst von den Gesprächen mit den Abschiebehäftlingen habe, in denen diese ihre Geschichte loswerden und neuen Mut fassen können? „Mein Horizont wird erweitert“, sagt Irene Blumenthal. Und fasziniert sei sie von den Mentalitäten und Kulturen, die bei aller Unterschiedlichkeit viel Gemeinsames besessen.                                                                  lz/Foto:Zygar

 

Das Porträt
Irene Blumenthal (Foto) ist neben Bernhard Balster Vorsitzender des Vereins „Hilfe für Menschen in Abschiebehaft Büren“. Die gebürtige Paderbornerin ist 37 Jahre alt und lebt heute zusammen mit ihrem Mann und vier Kindern in Büren. Bevor sie sich der Familie widmete, arbeitete sie als Restauratorin. Einen Vormittag der Woche verbringt sie in der Abschiebe- haftanstalt um drei Gefangene zu besuchen: zwei Kurden und einen Liberianer.
Irene Blumenthal Vorstandsmitglied „Hilfe für Menschen in Abschiebehaft“