27.06.1995

John: „Meine Probleme sind größer als ich“

Pflegefamilie statt Abschiebehaft für jungen Liberianer

Von Anja Paola Schweins

Büren (AnS). Zusammengesunken hockt er auf seinem Stuhl in dem kargen Besuchszimmer - und schweigt. Er hatte sich einverstanden erklärt, seine Geschichte für einen Zeitungsbericht zu erzählen. Davon, dass seine Eltern im Bürgerkrieg in Liberia bei einem Massaker umgebracht worden sind. Von der Misshandlung, von denen er Narben an Rücken und Beinen davontrug. Von seiner verzweifelten Flucht zu Fuß durch den afrikanischen Busch und per Kanu bis zur Grenze zur Elfenbeinküste. Von der Fahrt als blinder Passagier auf einem Schiff, auf dem ihn ein deutscher Seemann mit nach Hamburg nahm. Und schließlich von seinem Leben als Gefangener in der Bürener Abschiebehaftanstalt.

Doch der 17-jährige John bleibt stumm. Nervös trampelt er mit den Füßen auf den Fliesenboden. Dann bricht es aus ihm heraus: „Warum bin ich im Gefängnis? Habe ich ein Verbrechen begangen? Ich begreife das nicht.“ Hilfesuchend blickt der junge Afrikaner seine Besucherin an. Ein Brief von seinem Rechtsanwalt lässt er sich ins englische übersetzen. Aber der Inhalt birgt keine zufriedenstellende Antwort auf seine bohrenden Fragen.

Seit Anfang Mai ist er in Büren inhaftiert. Abgeschoben werden kann er nicht, weil sein Heimatland offiziell nicht bekannt ist. Seine Herkunft aus Liberia kann er mit Papieren nicht belegen. Auf der Flucht war er froh, sein Leben retten zu können. Der liberianischen Botschafter, dem er vorgeführt wurde, bestreitet die Existenz der von John benannten Heimatstadt Pleebo und seines Grebo-Stammes. Deshalb glauben auch die deutschen Behörden Johns Schilderungen nicht.

Irene Blumenthal versucht nach Kräften, dem kindlich wirkenden Teenagers zu helfen. Als Mitglied des Vereins „Hilfe für Menschen in Abschiebehaft Büren“ hat sie den Jungs schon mehrfach in der Haftanstalt besucht. Er gehört zu den Schützlingen, die der Verein mit großem Engagement ehrenamtlich betreut. „Dieser Junge gehört nicht in Abschiebehaft“, ist die Mutter zweier Söhne überzeugt.

Die psychische Belastung für den heranwachsenden, der den Verlust seiner Familie noch nicht verkraftet habe und nun ohne Bezugsperson auskommen müsse, sei einfach zu groß. „Meine Probleme sind größer als ich. Ich werde hier noch verrückt“, hat John ihr anvertraut. Es waren vermutlich Regierungstruppen der Nationalen patriotischen Front Liberias (NPFL), die seine Stadt überfielen, die Häuser anzündeten und Zivilisten ermordeten. Als einer der Überlebenden könnte John als Zeuge auftreten. Das könnte ein Grund sein, dass der Botschafter seine Stadt nicht kennen will, mutmaßt seine Betreuerin.

Sie würde ihren Schützling gerne in eine Pflegefamilie vermitteln, die die Vollweise vielleicht später adoptiert. Im vergangenen Jahr wurde schon einmal ein 17-jähriger Abschiebehäftling aus der Büren JVA zu einem Pflegevater entlassen, bei dem er noch heute lebt. Ideal für John wären Menschen, die viel Zeit haben, eventuell eine Familie, in der bereits Jugendliche leben. „Dort könnte er seine Lebensfreude wiederfinden“, hofft Irene Blumenthal.

Den Kontakt und erste Besuche zum gegenseitigen Kennenlernen könnte der Verein vermitteln (Postfach 145 1,33133 Büren). Fotografieren lassen wollte sich der schüchterne Junge nicht - wenig zuversichtlich, dass jemand aus seiner verzweifelten Lage aus dem Gefängnis zu sich nach Hause holen würde. Aber mit dem Versuch ist er einverstanden. Dass der erst 17-jährige John kein Einzelfall ist, belegt die Statistik der Haftanstalt: Von den zurzeit 186 Inhaftierten sind insgesamt acht noch minderjährig.