05.05.1995

Durchgangsstation Abschiebehaft - Pulverfass hinter Mauern

210 Gefangene aus 43 Nationen

Von Hans-Werner Loose

Büren. Das Grün der Fichten und Buchen endet sechs Kilometer hinter dem Ortsausgang von Büren an Stacheldraht und weißen Beton. Die Mauer mit sechs Meter Standardhöhe rahmt drei rot, dreigeschossige Backsteinhäuser ein. Dunkelhäutige Männer mit hellblauen Hemden recken ihre Arme durch zollstarke Gitterstäbe vor den Fenstern. Aus dem zweiten Stock segelt ein Plastikteller mit Gulaschresten auf den Rasen: Einer der 210 Gefangenen aus 43 Nationen hat in der größten deutschen Abschiebehaftanstalt seine Mahlzeit beendet.

Einige Fenster von Haus II sind schwarze Höhlen. Ostern quoll der Rauch brennender Matratzen in den trüben Himmel. 43 Häftlinge meuterten - die einen protestierten gegen die lange Zeit in den Zellen, die anderen gegen eine Heimreise wider Willen. Regierungsrat Peter Möller (55) spielt den Rabatz, bei dem zwei Wachleuten die Schlüssel abgenommen wurden, zum „Osterfeuer“ herunter.

Der Leiter des Gefängnisses im ostwestfälischen Kreis Paderborn arbeitet seit 1961 im Vollzug - „länger als lebenslänglich“, wer sagt. Er erlebte den Umbau der ehemaligen belgischen und niederländischen NATO-Kaserne Stöckerbusch für 32 Millionen Mark seit Mitte 1993; er war dabei, als im Januar 1994 die ersten „Schüblinge“ angekarrt wurden. „Im Sommer 1996“, sagt Möller, „soll hier Platz für 600 Häftlinge sein; bis zu 500 können wir schon jetzt provisorisch unterbringen.“

Die Belegung wechselt fast täglich. Morgens wird angeliefert, abends abgeholt. Vergitterte Polizeibusse bringen pro Monat 200 bis 250 Menschen, die zwischen 16 und 60 Jahre alt sind und des Lebens Sonnenseite in Deutschland vermuteten, von Büren nach Polen und Tschechien zurück oder zu den Flughäfen Düsseldorf und Frankfurt.

Die Theorie sah durchschnittlich 14 Hafttage vor. Die Praxis hat sich bei 60 Tagen eingependelt. Polen und Rumänien mit deren Heimatstaaten die Bundesrepublik Rücknahmeabkommen geschlossen hat, bleiben 14 Tage bis drei Wochen. 50 Abschiebehäftlinge sitzen länger als ein halbes Jahr in Büren - Inder, Chinesen, Marokkaner und Algerier. Ein Aserbaidschaner und ein Kuwaiter sind mit 240 und 248 Tagen die statistischen Tabellenführer.

Peter Möller hat die Eingesperrten aufgelistet: 60 Prozent abgelehnte Asylbewerber, die nach Ablauf ihrer Ausreisepflicht abgetaucht waren, 35 Prozent illegal Eingereiste und 5 Prozent verurteilte Kriminelle. Sechs von zehn behaupten beim Aufnahme-Procedere mit Foto, selten ihre Personalpapiere verloren.

Eine uniformierte, unbewaffnete Hundertschaft ohne Hunde passt auf, dass sich die Türen der Anstalt nicht zur Unzeit öffnen. 50 „Blaue“ eines privaten Sicherheitsdienstes ergänzen für 30 bis 35 Mark je Mann und Stunde die „Grünen“ des Staates. Die Vollzugsbeamten des Düsseldorfer Justizministers sind in Büren von niederer Routine befreit.

Im Knast ist Arbeit knapp. Mit der Montage von Elektroteilen und dem Sortieren von Schrauben kann Direktor Möller „selbst bei Jobsharing nicht alle beschäftigen“. Wer keine Arbeit hat, erhält pro Woche zehn Mark Taschengeld. Viele möchten arbeiten, damit die monotonen Tage schneller vergehen: 7:30 Uhr Wecken, Frühstück, aufschließen der Zellen für die Arbeiter, eine Stunde Hofgang mit kicken auf Beton und Tischtennis, Mittagessen, zweiter Hofgang, Abendessen, Einschluss. Am Wochenende wird eine Stunde später geweckt.

Abends beim Palaver von Zelle zu Zelle, herrscht babylonisches Sprachgewirr. Musik aus Kofferradios übertönt die Nachtgebete der Muslime. Die Schwarzafrikaner schimpfen über klebrigen Reis, den sie nicht mögen. Erst um Mitternacht werden die Farbfernseher mit 15 Satellitenprogramm und Live-Sendungen selbst aus China und Indien ausgeschaltet.

Seit ein paar Tagen hat das Abschiebegefängnis, als Strafanstalt kommt konzipiert, einen eigenen Arzt. Peter Möller langt zum Fensterbrett seines Büros und findet neben dem überdimensionalen Schlüssel einen bleistiftdicken Stab mit eingeklemmter Rasierklinge. „Mit solchen Dingern“, erklärt er die Notwendigkeit des neuen Doktors aus Ghana, „ritzen sich einige die Arme oder den Bauch auf - aus Hilflosigkeit, aus Verzweiflung oder einfach, um Druck zu machen.“

Renitentes, gepaart mit Gewalt, wird im Keller des Hauses III gebrochen. Die kahle Sonderzelle, von zwei Kameras überwacht, mit drei mal vier Meter. „Höchstens drei Tage wird jemand eingesperrt“, sagt Möller, „bis der aggressive Schub vorüber ist.“ Wegen einer „Behandlung in der Sonderzelle“ ermittelt der Paderborner Staatsanwalt. Ein Häftling behauptet, er sei mit der „Schaukel“ gefoltert worden: Hände und Füße hinter dem Rücken aneinandergefesselt. Möller bestreitet das nicht: „Was sollten wir denn sonst machen, um den Mann vor sich selbst zu schützen? Sollten wir zu sehen, wie er mit dem Kopf gegen die Wand rennt, sich schwer verletzt oder gar umbringen?“ Bisher habe es in Büren noch kein Selbstmord gegeben - „Gott sei Dank“.

Eka Bahrem (25), Bauingenieur aus Ostanatolien, ist seit einer Woche im Hungerstreik und setzt auf den von Nordrhein-Westfalen verfügten Abschiebestopp für Kurden: „Mein Asylantrag läuft noch.“ Der kurdische Türke war im Januar mit falschem Pass eingereist: „Was sollte ich machen? In meiner Heimat gibt es drei Haftbefehle gegen mich. Meinen Vater haben sie erschossen. Ich bin politischer Flüchtling.“

Das behauptet Ayhan Kilic (28), ohne Beruf, nicht. Er kam vor 19 Jahren als Kind eines türkischen Gastarbeiters nach Bonn, „mit unbefristeter Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis“. Dass er das Gastrecht missbraucht hat, lässt er als Grund für die Ausweisung nicht gelten: „Klar, ich war Drogendealer. Aber ich habe doch deswegen 40 Monate im Knast gesessen.“ Deutschland sei seine „wirkliche Heimat“, argumentiert er - und Abschiebung wäre die Vertreibung in ein fremdes Land“.

Über die Informationskanäle von Block zu Block und von Zelle zu Zelle haben die Gefangenen erfahren, dass Deutsche für sie auf die Barrikaden gehen wollen. Peter Möller erwartet einen unruhigen Sonntag mit Megaphon-Parolen draußen und lautstarken Antworten drinnen. Das Motto der Demonstration vor Deutschlands größtem Abschiebegefängnis: „Ein Bleiberecht für alle Flüchtlinge“.

Zurückgeschickt

HWL Bonn. Seit am 1. Juli 1993 das Asylrecht verschärft wurde, gingen die Zahlen der Bewerber von der Rekordmarke 474.000 um 66 Prozent auf 161.000 zurück: Ausländer, die aus einem sicheren Drittstaat einreisen, werden zurückgeschickt; Ausländer aus sicheren Herkunftsländern müssen beweisen, dass sie politisch verfolgt werden. 1990 wurden 5.861 Ausländer abgeschoben. 1994 waren es 53.043, darunter 31.761 abgelehnte Asylbewerber. Die Bundesländer entscheiden, der abgeschoben wird. Die Kosten des Transports trägt meistens der Bund.

Nach dem neuen Asyl- und Asylverfahrensrecht kann nicht nur schneller abgeschoben, sondern auch schneller inhaftiert werden. Mehr als 3000 Ausländer sitzen derzeit in Abschiebehaft, die meisten in Nordrhein-Westfalen: 631 Männer und 80 Frauen teilten sich im am 1. Januar die Zellen der acht speziellen Abschiebehaftanstalten, von denen zwei für den Strafvollzug genutzt werden. Die durchschnittliche Haftdauer beträgt dort 47 Tage. Die Abschiebehaft kostet pro Tag und Häftling 140 Mark. Am schnellsten geht der Rücktransport bei Polen und Rumänien: Nach 17 Tagen sind sie wieder dort, wo sie nicht hinwollen.

Für Fluggesellschaften ist die Abschiebung ein Geschäft: Sie kassierten für die Transporte seit 1990 45 Millionen DM. Nach Information des Bundesministeriums entstanden 60 Prozent der Kosten, weil 600 Grenzschutzbeamte auf 3800 Flügen „gewaltverdächtige Ausländer“ begleitet haben. Für 1995 rechnen die Fluggesellschaft mit 18 Millionen Mark Einnahmen.

Im ersten Jahr nach der Änderung des Asylrechtsparagrafen 16 brachten sich zwölf Abschiebehäftlinge um. In diesem Jahr gab es drei Selbstmorde. Ein 26-jähriger Algerier, ein 35-jähriger Äthiopier und ein 22-jähriger Marokkaner erhängten sich in den Justizvollzugsanstalten Wittlich, Würzburg und Wiesbaden. Außerdem gab es bisher knapp 30 Meutereien in Abschiebehaftanstalten.

 

 

Abschiebegefängnis in Büren: Die Theorie sah durchschnittlich 14 Hafttage vor, die Praxis hat sich bei 60 Tagen eingependelt Foto: S. Spiegl