01.03.1995

Postkarten für den Herrn Direktor

Abschiebeknast sind Einrichtung, die Auskunft geben über das Selbstverständnis unserer Gesellschaft. Hier kommen diejenigen, die nicht dazugehören sollen. Der größte deutsche Abschiebeknast liegt im nordrhein-westfälischen Büren. Einblicke in das Leben hinter Gittern.

Wenn ein Flüchtling versucht, sich umzubringen, dann aber doch noch überlebt, ist das eigentlich ein Ereignis ohne Nachrichtenwert. Keine Zeitung wird darüber auch nur eine Zeile bringen, die Leserinnen und Leser möchten schließlich nicht gelangweilt werden. Beginnen wir aber trotzdem mit einem Hinweis auf die Geschichte eines jungen algerischen Flüchtlings, der offensichtlich nicht mehr weiterwusste.

Sein Name ist Kakim F., sein Alter ist nicht genau festgestellt, es wird mit 15 bis18 Jahren angegeben. Er sitzt in Mannheim in Abschiebehaft. In Deutschland hat er unter verschiedenen Identitäten mehrere erfolglose Asylanträge gestellt. Seine Abschiebung scheiterte bislang an fehlenden Reisedokumente. Mitte Januar diesen Jahres wurde Kakim von zwei Mithäftlingen gefunden, als er gerade im Begriff war, sich in der Toilette aufzuhängen.

Das war nicht sein erster Selbstmordversuch: Mindestens vier weitere Versuche während seines Aufenthalts in Deutschland sind amtlich dokumentiert. Von seinem letzten Versuch erfuhr Amnesty International Mannheim durch einen anonymen Telefonanruf. Kakim wurde zunächst auf der Intensivstation der Universitätsklinik Heidelberg behandelt und dann ins Gefängniskrankenhaus Hohenasperg überstellt.

Eine Überweisung ins Zentralinstitut für seelische Gesundheit in Mannheim, wie sie das Diakonische Werk und Amnesty International vorgeschlagen hatten, wurde von den zuständigen Ausländerbehörden abgelehnt: Der Jugendliche könnte dann möglicherweise entweichen. Dass er belassen wird in seiner seelischen Not, erscheint offensichtlich als das geringere Übel.

Kakim ist einer jener ausländischen Staatsbürger in Deutschland, die behandelt werden, als seien sie kriminell, obwohl ihr einziges Vergehen darin besteht, unberechtigte Hoffnung mit diesem Land verbunden zu haben. Die Hürden des Asylrechts haben sie nicht überspringen können, zurück in die Heimat aber haben sie nicht gehen können oder wollen. Deshalb sind sie festgenommen worden.

Mindestens 3000 Personen befinden sich in Deutschland gegenwärtig in Abschiebehaft, im Spiegel war sogar einmal von 5000 Abschiebehäftlingen die Rede. Wegen der hohen Fluktuation lassen sich genaue Zahlen schwer ermitteln, zumal die Durchführung der Abschiebehaft Ländersache ist. Angesichts einer durchschnittlichen Haftdauer von einem Monat kann man aber davon ausgehen, dass pro Jahr circa 40.000 Personen fremder Staatsangehörigkeit hinter Gitter kommen. 40.000 Personen also, die fast ausnahmslos – abgesehen von ausländerrechtlichen Vergehen – keine Straftat begangen haben.

Weil wir in einem Rechtsstaat leben, ist dem in formaler Hinsicht auch genüge getan. Bei der Abschiebehaft handelt es sich nämlich nicht um Strafvollzug, sondern nur um eine Form der „Sicherheitshaft“. Damit soll niemand bestraft, sondern nur ein Verwaltungsakt sichergestellt werden: die Abschiebung.

Für die inhaftierten Flüchtlinge sind solche Spitzfindigkeiten unerheblich, behandelt werden sie trotzdem wie Verbrecher. Genauer gesagt: noch ein bisschen schlechter. Minimale Gefangenen-Rechte wie zum Beispiel die Beteiligung an der „Gefangenenmitverantwortung“, wie sie im Strafvollzugsgesetz abgesichert sind, gibt es für Abschiebehäftlinge nicht. Auch ein Taschengeld oder Arbeitsmöglichkeiten sind nicht vorgesehen, sondern werden von den Anstaltsleitungen nach eigenem Gutdünken bewilligt oder vorenthalten.

Das größte deutsche Abschiebegefängnis liegt in liegt in Nordrhein-Westfalen: Für 30 Millionen DM wurde die ehemalige belgische NATO-Kaserne in Büren bei Paderborn in eine wahre Festung verwandelt. Eine 6 Meter hohe Beton-Mauer sorgt für maximale Sicherheit, und für die Sicherheit der Mauer sorgt ein riesiger Zaun. Der Zaun wird ebenso wie die Mauer von Fußstreifen und Videokameras bewacht. Die ganze Architektur der Anlage ist geprägt von der Angst, die Flüchtlinge können abermals flüchten. Bezeichnend auch, dass diese Anlage zur Flüchtlingsentsorgung acht Kilometer außerhalb der Ortschaft liegt, weit abgelegen mitten in einem Wald – ein Lager im Niemandsland.

Eröffnet wurde dieser reine Männerknast vor einem Jahr. Bereits im April aber geriet er in die Schlagzeilen, als er nämlich wie in Leverkusen, Kassel und Berlin zu einer Revolte kam: 50 Gefangene weigerten sich damals, nach dem Hofgang in die Zellen zurückzukehren. Der Aufstand wurde niedergeschlagen, die „Rädelsführer“ wurden in andere Knäste verlegt.

Untergebracht sind die Häftlinge gewöhnlich in 6-Bett-Zellen. Eine Stunde am Tag werden sie in einem Käfig geführt zum Hofgang. Einmal im Monat dürfen Sie telefonieren. Ob sie dieses eine Mal aber für ein Gespräch mit dem Anwalt oder mit einem Familienangehörigen nutzen wollen, das dürfte sie sich aussuchen. Es gibt Flüchtlinge, die angesichts dieser Haftsituation und auch angesichts der bevorstehenden Zwangsrückführung außer sich geraten, die anfangen zu randalieren oder die versuchen, sich umzubringen. In Büren gibt es eine vollständig leere, fensterlose Zelle, auch „Gummizelle“ genannt, in die diese Gefangenen eingesperrt und gefesselt werden. 

Der Kosovo-Albaner Samir Z., dem dies insgesamt neunmal widerfahren ist, hat die in Büren praktizierte Fesselungstechnik in Zeichnungen dokumentiert: Dem auf dem Boden liegenden Flüchtling werden hinter dem Rücken die Hände aneinandergebunden, die Beine nach hinten gebeugt, die Füße gefesselt und dann mit den Händen verschnürt.

Man kennt diese Form der Fesselung aus Amnesty International-Berichten, genannt wird sie „Schaukel“. Sie ist äußerst schmerzhaft, besonders im Bereich der Schulter- und Kniegelenke, wegen des Durchblutungsstaus aber auch an Armen und Beinen. Für das renommierte Berliner „Zentrum für die Behandlung von Folteropfern“ handelt es sich bei dieser Festungstechnik und Folter. Der Betroffene werde dadurch in eine Zwangshaltung versetzt, und zwar vorsätzlich und auf demütigende Weise.

Dennoch ist der Leiter des Abschiebeknast in Büren, Peter Möller, überzeugt von den eigenen guten Absichten. „Diese Form der Fesselung“, so Peter Möller, „die ich seinerzeit angeordnet habe, wird von Außenstehenden und den Gefangenen als Folter empfunden, obwohl sie aus unserer Sicht mehr dem Schutz des Gefangenen dienen soll.“ Seit einigen Monaten werden diese Form der Festung nicht mehr praktiziert sagt Möller. Vielleicht deshalb nicht mehr, weil eine Ärztin gegen ihn Strafanzeige gestellt hat und wegen Körperverletzung im Amt? Die Staatsanwaltschaft Paderborn ermittelt jetzt in dieser Angelegenheit, mit welchem Ergebnis, das wird sich zeigen.

Warum muss übrigens für einen außer sich geratenen Flüchtling gut sein soll, wenn er gefesselt wird – und zwar völlig unabhängig von der angewandten Fesselungstechnik – Möllers Geheimnis. Zumal es in der Gummizelle, in die die sorgfältig verschnürten Menschen fremder Staatsangehörigkeit gelegt werden, nichts gibt, womit sie sich oder anderen etwas antun könnten: Keinen Tisch, keinen Stuhl, kein Bett. Nur zwei Videokameras hinter Panzerglas an den Stirnseiten der Zelle und eine Gegensprechanlage. Wozu also die Fesselung, wenn nicht zur sorgsam inszenierten Demütigung eines wehrlosen Menschen.

Zur Jahreswende 94/95 saßen im Büren genau 302 Männer aus über 50 Nationen, davon allein 59 Flüchtlinge aus dem Bürgerkriegsland Algerien. Aber der Umbau ist noch nicht abgeschlossen. Nach Fertigstellung soll die Kapazität der Anlage bei 600 Gefangenen liegen. Auch das gehört irgendwie zur Leistungsbilanz des Bundeslandes NRW. Falls die durchschnittliche Haftdauer verkürzt werden könnte, ließ sich die Jahreskapazität der Anlage noch einmal gewaltig steigern.

Mit der Haftdauer klappt es aber noch nicht so richtig. Algerien, Marokko und Indien beispielsweise weigern sich, die ihnen entflohenen Bürger umstandslos wieder zurückzunehmen. Nicht zufällig sind das die drei in Büren am stärksten vertretenen Nationalitäten. Algerien beispielsweise verlangt vollständige Aufklärung über personelle Identität und Fluchtweg der betroffenen Person, um sie gegebenenfalls bei der Ankunft in Algerien direkt festnehmen zu können.

Von staatlicher Seite in Deutschland wird alles getan, um diesen Wunsch zu entsprechen. Im vergangenen Jahr wurden beispielsweise Angehörige des algerischen Konsulats nach Büren eingeladen, um entsprechende Verhöre durchzuführen. Da die algerischen Flüchtlinge jedoch jegliche Zusammenarbeit verweigerten, führte diese ungewöhnliche Form der Amtshilfe zu nichts. Jetzt läuft es wieder umgekehrt: die Flüchtlinge werden ins algerische Konsulat gebracht, da hat man sie dann wnigstens einzeln. Erst einmal aber dürfen sie bis zu 18 Monate lang schmoren – das ist die gesetzliche Höchstgrenze für die Sicherungshaft.

Über Flüchtlinge aus anderen Herkunftsländern weiß man noch viel weniger. In Büren saßen zum Jahresbeginn beispielsweise neuen Männer aus der Volksrepublik China – ganz junge, verängstigt wirkende Person. Wenn niemand Chinesisch kann und sie auch kein Deutsch oder Englisch, können sie sich mit niemandem in der Haftanstalt verständigen. Aber auch mit einem eigens aus Bielefeld herbeigeholt Dolmetscher kommt das Gespräch mit dem wissbegierigen Besucher aus Köln nicht zustande. Sie hätten Angst, erläuterte der Dolmetscher, der Journalist wollte sie nur dazu benutzen, Propaganda zu machen für diesen Staat. Das Misstrauen bleibt, mehr lässt sich nicht in Erfahrung bringen. Niemand in der Haftanstalt hat irgendwelche Informationen über die Fluchthintergründe dieser Leute, dafür ist man ja auch nicht zuständig.

Auch über Zhou Zhe Gun wusste man nicht viel. Der 48 Jahre alte Chinese saß im vergangenen Jahr in Volkstedt bei Halle in Abschiebungshaft. Am 2. Juni verknotet er alle Sorten, die er finden konnte, und hängte sich daran auf. Das war der zehnte bekannt gewordene Selbstmord eines Ausländers in Abschiebehaft seit der Änderung des Asylrechts vor zwei Jahren.

Eine Besonderheit der Haftanstalt in Büren ist der Einsatz von fünf 50 Wachleuten eines privaten Sicherheitsunternehmens, der „Kötter Verwaltungsdienstleistungen GmbH & Co KG“ mit Hauptsitz in Essen. Die privaten Wachleute arbeiten zusätzlich zu 53 staatlichen Vollzugsbediensteten. Das ist eine für das gesamte deutsche Knastsystem richtungsweisende Neuerung, ein Schritt in Richtung Privatisierung der Knäste nach amerikanischem Vorbild. Zuvor hatte es mit privaten Wachleuten nur einen kurzen Testlauf gegeben in dem mittlerweile wieder geschlossenen Container-Abschiebeknast in Wuppertal-Lichtscheid.

Zwischen 10,93 DM und 12,50 DM brutto bekommen die Kötter-Leute in Büren pro Stunde, dass ist außerordentlich kostensenkend. Einige von ihnen sind ausländischer Herkunft, auch das ist symptomatisch, zeigt es doch, welche Tätigkeiten Ausländern in dieser Gesellschaft offenstehen, sofern sie sich irgendeinen Aufenthaltsstatus gesichert haben. Im Zusammenhang mit dem Einsatz der Kötter-Leute in Büren ist viel von „Schwarzen Sheriffs“ die Rede gewesen, so als ob diese Leute besonders brutal seien. Für Büren ist dies aber nicht belegt. Hinter der abfälligen Bewertung der Kötter-Leute scheint vielmehr die Angst der deutschen Vollzugsbediensteten zu stehen, sie könnten ihr Monopol auf Bewachen und Strafen langfristig an private Billiganbieter dieser Dienstleistungen verlieren.

Gefängnisdirektor Peter Möller äußert sich gern über seine Arbeit. Eine Schulklasse aus Büren, der es darum ging, ein bisschen in die Welt des Journalismus zu schnuppern, machte deshalb Ende vergangenen Jahres mit ihm ein Interview. Fragen und Antworten wurden später in der Paderborner Ausgabe der „Neuen Westfälischen“ veröffentlicht. Auf die Frage nach Sinn und Zweck der Abschiebehaft antwortete Peter Möller beispielsweise: „Ein geliebter Kanarienvogel wird ja auch in einen Käfig gesperrt.“ Gleichermaßen salopp konnte er erklären, warum es auch innerhalb der Knastanlage so viele Zäune gibt: „Damit die Leute nicht alle durcheinanderlaufen.“ In diesem Stil ging es dann immer weiter.

Frage: „Welche Gründe haben die Asylbewerber, nach Deutschland zu kommen?“ Antwort Möller: „Unterschiedlich! Politisches und materielles Unwohlsein, Abenteuerlust, kriminelle Energie. In der BRD gibt es mehr zu holen als woanders.“

Frage: „Wie sieht es für die Häftlinge nach der Abschiebung aus?“ Antwort Möller: „Die Häftlinge dramatisieren, was in ihrer Heimat alles passieren könnte, weil sie unbedingt hierbleiben wollen. Aber die Prüfung dieser Sachen übernimmt eine andere Behörde. Ich bekomme auch öfters einen Anruf oder eine Karte aus Indien oder Tunesien.“

Die United Colours des Peter Möller. Sein Gewissen ist unbeschwert, für Moral ist er nicht zuständig: „Die Prüfung dieser Sachen übernimmt eine andere Behörde“. Es ist übrigens kaum anzunehmen, dass Möller schlimmer ist als seine Amtskollegen in anderen deutschen Abschiebeknästen. Seine sprachlichen Entgleisungen verraten nur, dass er den sozialdemokratischen Jargon, der in den Abschiebeknast in NRW eigentlich gepflegt wird, nicht hinreichend beherrscht.

 

                                                                                                         

Die Architektur der Anlage ist geprägt von der . Angst, die Flüchtlinge könnten abermals flüchten.
Die Häftlinge sind gewöhnlich in 6-Bett-Zellen untergebracht. 1 Stunde am Tag werden sie in einem Käfig zum Hofgang geführt.
„Ein geliebter Kanarienvogel wird ja auch in einen Käfig gesperrt.“ Peter Möller, Leiter des Bürener Abschiebeknast
Im Abschiebeknast in Hamburg-Glasmoor (Bild) sitzen bis zu 80 Flüchtlinge ein. Der größte deutsche Abschiebe knast befindet sich in Büren; Kapazität: 600 Flüchtlinge
Text: Jürgen Salm/ Foto: Lukas Hano