11.01.1995

„Wir kratzen hier angebahnte Beute aus“

Der Verein „Hilfe für Menschen in Abschiebehaft“ erledigt Arbeit für fehlende professionelle Betreuer

Von Karl Finke

Büren. Irene Blumenthal beginnt donnerstags abends damit, Briefe zu verteilen. Hilferufe! „Ich möchte Caritas sprechen“, kritzeln Abschiebehäftlinge der formelhaft auf Antragszettel. „Caritas“, dass setzen sie gleich mit Kontakt nach draußen. Für die meisten der einzige. Manche schreiben seitenlang, beschreiben gleich ihre ganze Not. Um das Porto zu sparen, sammelt die JVA etwa 50 Gesprächsbitten wöchentlich und lässt sie vom Verein gebündelt abholen.

Aus dem Caritas-Aufruf im April 94 hat sich die „Hilfe für Menschen Abschiebehaft“ längst verselbstständigt. Etwa 20 Personen treffen sich jeden Donnerstag ab 20 Uhr zur Koordination im Pfarrheim. Frauen und Männer aus dem Raum Paderborn/Büren, Studentinnen und Sozialarbeiter, eine Gemeindereferentin, eine Ordensschwester aus Salzkotten und ein Asylbewerber aus Bangladesch. Irene Blumenthal, Restauratorin und Mutter, sowie Studiendirektor Bernd Balster übernehmen den Vorsitz. Dass sich Bürener in der Abschiebehaftanstalt engagieren, scheint vielen in der Stadt nicht selbstverständlich, sondern eher absonderlich.

„Was sagt denn deine Familie dazu?“ wurde die Bürenerin Ilse Müller von einer guten Bekannten gefragt. „Sie halten es für sinnvoller als das ich von Kaffeeklatsch zu Kaffeeklatsch eile“, war die Floristen im Ruhestand um eine Antwort nicht verlegen und wusste auch mit dem Vorwurf „was dort alles kaputt gemacht wird“ umzugehen: „Wenn man deinen und meinen Mann – nicht mal Fremde – in eine Zelle einsperrte, würden die wohl auch einiges kurz und klein schlagen.“ Ihre Gesprächspartnerin habe auf einmal Verständnis gezeigt: „Das würde keine 14 Tage dauern.“

Ilse Müller wie auch Musahed Uddin Ahmed begeben sich fast täglich in die JVA, andere mehrmals, die meisten zweimal pro Woche. Besuche die mindestens drei Stunden Zeit für zwei bis drei Gefangene erfordern. Jeder musste immer wieder Sicherheitskontrollen über sich ergehen lassen. Nach ständigen Eingaben bei der JVA-Leitung wurde seit Jahresbeginn Erleichterungen durchgesetzt.

Über 700 Gefangenen haben die Helfer inzwischen zuallererst menschlichen Beistand geleistet. Sie sind Vermittler für Kontakte mit der Familie, Freunden oder auch einen Rechtsbeistand. Nur in wenigen Fällen kann es der Verein riskieren, selbst einen Rechtsanwalt zu beauftragen. Die bescheidene Kontosumme ist für solche Kosten ständig verplant. Mit Spendengeldern werden notgedrungen im Heimatland die Fahrtkosten zurück zu Familie finanziert. Dass die Betreuungsarbeit zu Recht erfolgt, zeigen die über 80 Fälle, in denen Häftlinge entlassen werden mussten.

„Wir kratzen hier angebrachte Pötte aus“, setzt Maren de Vries das Dilemma ins Bild. „Viele hätten nicht in Abschiebehaft müssen, wenn sie vorher Hilfe bekommen hätten.“ In der JVA würden Häftlinge ihre Anhörungstermine teilweise erst erfahren, wenn die Frist zur Stellungnahme längst abgelaufen sei. Pannen, wie die Abschiebung eines Kenianers nach Polen, ohne dass er je dort war, können die Vereinsmitglieder einige aufzählen. Dass die Gerichte und Behörden mit Arbeit überlastet sein, aber kein zusätzliches Personal erhalten würden, zeige, dass die neue Asylgesetzgebung „am grünen Tisch ausgedacht“ worden sei.

„Normalerweise müssten für Stöckerbusch mehrere Sozialarbeiter eingestellt werden“, sagt einer der namentlich nicht genannt sein möchte. Diesen Betreuungsbedarf habe mittlerweile sogar der Justizminister erkannt – in einzulösen weigere sich nun der Finanzchef. Die, die sich anstelle bezahlter Betreuer ehrenamtlich in der JVA einsetzen, wissen, dass ihre Hilfe nur ein Tropfen auf den heißen Stein ist – Irene Blumenthal: „Eigentlich müsste man viel mehr machen, aber man muss ja auch den Rest des Lebens geregelt bekommen.“