05.06.1998

Kanthers Vollstrecker

Befindlichkeiten in deutschen Asylbehörden --- Der Fall Sis

Franz Josef Schumacher ist eine Art Abteilungsleiter in der Justizvollzugsanstalt Büren. Sechs Meter hohe Mauern ragen kurz vor Paderborn mitten in einem nordrhein-westfälischen Wald. Abdulhalmin Sis - von ihm wird später noch die Rede sein - hat hier nicht gesessen, er war in ein Berliner Gefängnis weggeschlossen. Franz Josef Schumacher hat trotzdem ein schlechtes Gewissen, und er macht sich Gedanken, ob das alles so richtig sei. „Ich für meinen Teil, ich find` es persönlich nicht unbedingt richtig, dass man Menschen, junge Menschen, einsperrt bis zu 18 Monaten. Ich denk`, das kann nicht richtig sein. Da ist vielleicht auch unser Recht nicht der Weisheit letzter Schluss.“ Franz Josef Schumacher ist weder besser noch schlechter als all die anderen in seinem Geschäft. Er arbeitet, sieht zu, dass niemand von den Gefangenen ausbricht, keiner sich aufhängt oder sonst wie beschädigt. Und nutzt die übrige Zeit, um nachzudenken.

Sein Kollege, der Wachmann Ralph Kramer, Angestellter des zusätzlich dort tätigen privaten Unternehmens „Kötter-Security“ denkt ähnlich: „Wenn dann der Tag der Abschiebung da ist, muss man sich irgendwie … die Gefühle müssen dann irgendwie begrenzt werden. Er ist zur Abschiebung quasi freigegeben. Das Gesetz hat gesagt, er muss nach Hause dann und dann. Und dann muss man sich doch leicht ein bisschen abkapseln. Sonst nimmt man alles mit nach Hause, jedes einzelne Schicksal. Und das kann nicht sein. Dann macht man sich hier kaputt.“

Acht Wachbeamte stehen mir Rede und Antwort, allein möchte niemand antworten. Denn während sie ins Mikrofon sprechen, quält sich zwischen Bekenntnis und Beichte so etwas wie schlechtes Gewissen hindurch. Das Wachzimmer ist übervoll. Auf dem Hof spielen einige der Gefangenen Fußball. Nebenan in einer Zelle singt ein Häftling mit melancholischer Stimme eine fremde Melodie. Warten bis zum Tag X, bis zur gewaltsamen Entfernung von deutschen Staatsgebiet.

Der Staat nimmt sich das Recht, Menschen zu diesem Zweck zu Inhaftierten, obwohl sie sich keinerlei Verbrechen schuldig gemacht haben, nur weil sie die zur Abschiebung benötigten Ausweisdokumente nicht beibringen können.

Thomas Bongartz, Chef der staatlichen Wachmannschaft, schafft in unserem Gespräch über die Gegensätze zwischen den Rechtsvorgaben und der Gewissenslage der Bediensteten die Quadratur des Kreises: „Das mag menschenrechtlich nicht in Ordnung sein, aber rechtlich gesehen ist das hier in der Bundesrepublik so geregelt. Und nur aufgrund eines Gesetzes sind diese Leute hier.“

Abdulhalim Sis musste zweimal sitzen für Deutschland. Für Deutschlands Schutz vor zu vielen, nicht genehmen, zerstörenden Flüchtlingen. Im vergangenen Jahr waren etwa 20.000 Menschen in Abschiebehaftanstalten oder besonderen Trakt normaler Gefängnisse weggeschlossen. Die durchschnittliche Haftdauer beträgt fünf bis sechs Wochen: Spitzenzeiten mit mehr als vier Monaten sind trotzdem keine Seltenheit. Die Haftbedingungen sind unterschiedlich. Zum großen Teil liegen sie unter dem Standard von Strafhäftlingen, insbesondere, was Umschluss und Arbeitsmöglichkeiten sowie Taschengeld betrifft.

In Berlin, wo Abdulhalim Sis während seiner zweiten Inhaftierung als Asylbewerber einsaß, mussten die Häftlinge von ihren 80 Mark monatlichen Taschengeld noch für jede Tasse heißen Wassers zahlen, mit der sie die gleichfalls in der Haft gekauften Teebeutel aufgossen. Bis ein Streik diese Praxis beendete. Solche Pfennigfuchserei mag, um mit Tom Bongartz aus Büren zu sprechen, menschenrechtlich nicht in Ordnung gewesen sein. Aber ein Gesetz, zumindest eine Verwaltungsanordnung, gab es dafür auch.

Der Verweis auf Vorschriften entlastet das Gewissen. Werner Novak, auch er bei der staatlichen Wachmannschaft beschäftigt, bringt es auf den Punkt, als er erregt darauf verweist, „noch“ (warum noch?) befänden wir uns in einer Demokratie! Als Demokrat stehe er hinter dem Ausländergesetz, weil‘s ja mehrheitlich von allen Parteien beschlossen worden sei.

Dazu zu stehen und sich dazu zu bekennen, sind jedoch zwei Paar Schuhe. Öffentlich will kaum einer mit seiner Arbeit bekannt werden. Gewissensprobleme haben fast alle der etwa 10.000 Beschäftigten in deutschen Asylbehörden: in Gefängnissen, beim Grenzschutz, den Ausländer-, Wohnung- oder Sozialämtern, dem Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge oder dem Verwaltungsgericht. Immerhin gehört zu ihrem Alltag, Asylbewerber nicht mehr als fünf Quadratmeter Wohnfläche zuzuweisen, sie nur im unabweisbaren Notfall zum Arzt zu lassen, sie zu bestrafen, wenn sie den zugewiesenen Ausländeramtsbezirk verlassen, der überwältigenden Mehrzahl die Anerkennung als Asylberechtigte zu verweigern - trotz Folterspuren, Hungersnöten oder Bürgerkriegen in den Heimatländern -, sie einzusperren, sie zu Zehntausenden jährlich abzuschieben.

Seit einiger Zeit werden Psychologen und Seelsorger von Amts wegen angefragt, um die Nöte der Beschäftigten zu bearbeiten. Innere Kündigungen und ausgesprochene, gerade in Wohnungs- und Sozialämtern, Versetzunggesuche, Einzelfallhilfen unterhalb und außerhalb der gesetzlich vorgeschriebenen Unerbittlichkeit, bringen den Apparat zwar nicht zum Wanken, aber ins Knirschen.

Kürzlich wurde den Abschiebe-Exekuteuren der örtlichen Ausländerbehörde per Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts die Kompetenz entzogen, selbstständig über Abschiebehindernisse zu entscheiden. Das übernimmt jetzt das „Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge“, eine dem Bund unmittelbar unterstellte Behörde mit nur 40 über das ganze Land verstreuten Außenstellen und einer noch einmal wesentlich geringeren „Basisnähe“.

Der moralische Druck von Teilen der Öffentlichkeit erreicht die Zuständigkeiten dieses Bundesamtes jedenfalls schwerer als Ausländerbehörden vor Ort dafür erreichbar wären, das Gewissen entlassen kann sie nicht, nicht zuverlässig jedenfalls.

Gerhard Brand, in der Ausländerbehörde Bad Hersfeld zuständig für Abschiebungen, gesteht, er wolle sich in die Lage der Betroffenen, die abgeschoben werden, „nicht allzu oft hineinversetzen. Weil man sich sonst mit Albträumen selbst fertig macht. Man ist ja auch nur Mensch und muss mit diesen Dingen leben.“ Gerhard Brand hat Abdulhalim Sis abgeschoben. Im vergangenen Jahr, im Februar. Dessen hochschwangere Frau blieb mit den drei Kindern hier. Ihr Asylfolgeantrag lief noch. Normalerweise verlieren sich die Schicksale von Abgeschobenen im Dunkel der Fluchtländer. In diesem Fall nicht.

Verwaltungsrichter Günter Schnell hatte in einem unanfechtbaren Beschluss geurteilt:“ Ob man in der Heimatregion nach dem Antragsteller sucht, ist unerheblich, denn der Antragsteller kann sich diesen drohenden Verfolgungen durch Wohnsitznahme in der West Türkei entziehen.“                                  (GeschZ:: 4G3679/96)

Abdulhalim Sis konnte sich nicht „entziehen“ und bezahlte mit fünf Monaten Haft und Folter in türkischen Gefängnissen. Verwandte halfen dem von der Folter ausgezehrten mit Geld und Kontakten, er floh, wieder nach Deutschland. Eigene Mittel hatte er nicht, seine 200 Schafe waren schon zur Finanzierung der ersten Flucht verkauft. Sepp Graessner, Leiter des Behandlungszentrums für Folteropfer, beschreibt den Fall: „Insgesamt lässt sich feststellen, dass Herr Sis mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Opfer von Folter nach seiner Abschiebung in der Türkei wurde. Man wird sich der Bewertung nicht entziehen können, dass seine Folterung in der Türkei eine fahrlässige Beihilfe vorausging.“

Das Abdulhalim Sis nach seiner ersten Flucht keine Gnade in Deutschland fand und keine Gerechtigkeit, höchstens ein Recht, dass für andere gemacht ist, verbindet ihn mit 93 Prozent der Asylbewerber. Die Anerkennungsquote für Verfolgte aus international geächteten Folterregimes wie zum Beispiel Nigeria, einem bedeutenden Erdöllieferanten, liegt unter zwei Prozent, im Falle der Türkei, ebenfalls der dauernden Anwendung der Folter von UNO und EU angeklagt, liegt sie bei elf Prozent. Das Zentrum für Folteropfer in Berlin hat in einer Untersuchung festgestellt, dass von 40 gepeinigten 30 das Asyl verweigert wird. In 25 Fällen interessierten sich die Einzelentscheider des Bundesamtes nicht einmal für die von den Flüchtlingen berichteten Übergriffe.

Als ich Verwaltungsrichter Günter Schnell, der mit seinem Urteil für die Abschiebung von Sis gesorgt hatte, mit dessen Schicksal konfrontierte, gerät der Redefluss des gewandten Juristen für Sekunden ins Stocken. Um danach fortzufließen und Bescheid zu geben. Seine Prognoseentscheidung, lässt er wissen, seine Prognoseentscheidung, die damals richtig gewesen sei, habe dann eben nicht alle Tatsachen berücksichtigen können- nämlich die Tatsachen, die letztlich zur Verhaftung und Folter geführt hätten; diese seien ihm nicht bekannt gewesen. Nein, das sei alles nach bestem Wissen und Gewissen geschehen. Nein, ein schlechtes Gewissen habe er nicht.

Für die zahlreichen Unterstützer aus Gewerkschaften, Kirchen und Flüchtlingsgruppen, die die Abschiebung von Abdulhalim Sis 1996 verhindern wollten, standen allerdings die „Prognosen“ für den Abgeschobenen von Anfang an mehr als schlecht. Auch der Schnell-Verweis auf die „inländische Fluchtalternative“ Westtürkei hatte bei ihm nicht den Rang einer „Tatsache“. Aber der Richter kann sich da auf höhere Mächte berufen.

Im Asylapparat greift ein Rädchen ins andere. Das entscheidende ist nahezu unsichtbar: das Auswärtige Amt mit seinen sogenannten Lageberichten. Es hat die Erfindung der „inländischen Fluchtalternative“ zur asylrechtlichen Staatsdoktrin erhoben. Wieviel diplomatische Zurückhaltung gegenüber dem befreundeten NATO-Mitglied Türkei in dieser Behauptung steckt, zeigt nicht nur der Fall Sis, sondern wird durch die Berichte von Amnesty International und anderen unabhängigen Organisation verdeutlicht.

Ausländeramtsmitarbeiter Brand muss nun als unmittelbar tätig Gewordener bei der Abschiebung des Abdulhalim Sis in die türkische Folter mit den Folgen seines behördlichen Tuns fertigwerden. Es ist eingetreten, was manche Beschäftigte, schlecht schlafen lässt: dass sie persönlich Folter und Mord an Menschen ermöglichen, weil sie ihnen den Schutz als Asylbewerber verweigerten.

Während sich Richter Schnell mit dem Hinweis auf angeblich ihm nicht vorliege Tatsachen rettet, erschüttert die Konfrontation mit dem „Fall“ Sis Gerhard Brandts Glauben in den exculpierenden Pragmatismus: „Das würde mir doch sehr zu denken geben, dass ich dann mitverantwortlich war.“ Und noch einigem Zögern fährt er fort, von möglichen Konsequenzen für sich in dritter Person zu grübeln. „Man müsste sich dann schon Gedanken machen, was man zukünftig macht. Ob man weiterhin diese Tätigkeit verantworten kann. Naja, man ist immer so - wie soll man das sagen -, so ein Zahnrad in der großen Maschine … Bleibt man wirklich da so sitzen und trifft die nächste Entscheidung genauso wieder? Ich bin, ehrlich gesagt, froh, dass ich nicht in der Position des Abschiebebeamten bin“, schießt ihm nach einer langen Pause durch den Kopf: „Oder geht man einen ganz anderen Weg und trägt diese Angelegenheit ans Ministerium?“ Und mit diesem Gedanken ist Gerhard Brand wieder beim „ich“ angelangt: „Ich würde sagen: so und so ist das gelaufen, das und das ist passiert. Sollen wir jetzt das weiterhin einfach so handhaben und die Leute dahin zurückschicken? Oder was soll man machen?“ Der Beamte schaut mich an und zuckt entschuldigend die Schultern: „Gut, da habe ich die Entscheidung nur auf jemand anderen übertragen. Aber zumindest muss mir dann gesagt werden, was ich weitermachen soll.“

Abdulhalim Sis ist nach Intervention von Anwälten und des Behandlungszentrums für Folteropfer aus dem Berliner Abschiebegefängnis freigelassen worden. Nun wartet er zum zweiten Mal mit seiner Frau und seinen Kindern auf einen Entscheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge.

Albrecht Kieser