12.11.2009

„Angst vor Abschiebung ist allgegenwärtig“

Interview

Frank Gockel von der Flüchtlingshilfe Lippe berät aus ihrer Heimat vertriebene Menschen

Etwa 50 Flüchtlinge gibt es in Lage, die von der Stadt finanzielle Leistungen erhalten. Diese und weitere aus umliegenden Städten berät die Flüchtlingshilfe Lippe.

Lage. Im vergangenen Jahr führte die Flüchtlingshilfe im Kreisgebiet 650 Gespräche. Die LZ befragte Mitarbeiter Frank Gockel 38.

Wer kommt alles zu Ihnen?                                                                                                                                                                        Frank Gockel: In die Beratung kommen hauptsächlich Leute, die nur geduldet oder illegal hier sind, also von Abschiebung bedroht sind. Herkunftsländer sind das ehemalige Jugoslawien und die ehemalige Sowjetunion, außerdem der Iran und Irak. Zurzeit gibt es allerdings kaum neue Flüchtlinge. Wenn jemand anerkannt ist, bekommt er eine Aufenthaltserlaubnis und darf arbeiten. Nach drei Jahren findet eine weitere Überprüfung statt. Stimmen die Voraussetzungen noch, bekommt er eine Niederlassungserlaubnis.

Was möchten die Menschen von Ihnen wissen?                                                                                                                        Gockel: Es gibt zwei Schwerpunkte: Viele Fragen wie sie ihren Aufenthalt verfestigen können, um nicht abgeschoben zu werden. Der zweite Themenschwerpunkt liegt beim Asylbewerberleistungsgesetz. Flüchtlinge bekommen etwa 65 Prozent des Hartz IV-Satzes. Hier stoße ich immer wieder auf nicht richtig berechnete Bescheide der Behörden.

Wie kann das passieren?                                                                                                                                                 Gockel: Nach vier Jahren muss das Sozialamt prüfen, ob man einen Anspruch auf mehr Geld hat. Dies wird häufig vergessen. In der Vergangenheit hat es viele Flüchtlinge gegeben, ihre Leistung bei der Stadt einklagen mussten.

Wie fühlen sich die Menschen hier?                                                                                       Gockel: Ich kenne Familien, die sich seit 5,10 oder mehr Jahren hier aufhalten. Gerade die Kinder sind meistens gut integriert, gehen hier zur Schule. Viele haben ihre Heimat hier gefunden. Auf der anderen Seite steht die permanente Angst vor Abschiebung. Jede Nacht müssen die Betroffenen damit rechnen, von den Ausländerbehörden abgeholt zu werden.

Die Flüchtlinge sind hier also praktisch integriert?                                                              Gockel: Integration ist eine einseitige Leistung. Die Flüchtlinge sind in der Regel bereit, die entsprechenden Schritte zu tun. Doch leider hat unsere Gesellschaft noch nicht in allen Bereichen gelernt, dass diese Menschen dazugehören. Wir müssen ihnen ein Angebot machen, mit uns zu leben. Dazu zählen auch kostenlose Deutschkurse für Geduldet. Sicherlich, Integration kostet auch Geld, aber es hilft auch, in der Zukunft viel davon einzusparen. Als weitere Schritte könnte die Stadt Lage die letzten verbliebenen Asylunterkünfte auflösen und die Menschen in privaten Wohnungen unterbringen. Das würde ein Miteinander fördern. Auch die Vereine sollten überlegen, wie sie attraktive Angebote gestalten können, um das Miteinander voranzutreiben.

Welche persönlichen Probleme haben die Menschen?                                                           Gockel: Die Sorgen sind vielschichtig. Es gibt zum Beispiel Handybetreiber, die in Unterkünfte gehen, um den Flüchtling völlig überteuerte Verträge anzudrehen, die sie nicht brauchen. In solchen Fällen verhandele ich unter anderem über Ratenzahlung. Die an uns gerichtete Fragen reichen vom Schulbesuch, über Ärger mit Nachbarn bis zu gesundheitlichen Problemen. Viele der Ratsuchenden leiden aufgrund von Folter und Misshandlung in ihrer Heimat unter posttraumatischen Belastungsstörung.

Von Leistungsmissbrauch hört man kaum noch?                                                                                                                                Gockel: Die Ausländerbehörden arbeiten heute mit Fingerprints, die in einer europäischen Datenbank gespeichert sind. Damit ist es unmöglich, doppelte Sozialleistung zu bekommen. Wenn Flüchtlinge bei Straftaten wie Schwarzarbeit erwischt werden, trifft es sie doppelt. Neben der Strafe müssen Sie mit aufenthaltsrechtlichen Konsequenzen rechnen.

Was schätzen Sie, wie viele Menschenleben illegal hier?                                                               Gockel: Das ist schwierig zu schätzen. Bundesweit gibt es Zahlen zwischen 100.000 und einer Millionen Menschen. Für ein Abtauchen in die Illegalität gibt es zwei Gründe: Leute, die glauben oder wissen, dass sie keine Chance haben hier zu bleiben und Leute, die Angst vor Abschiebung haben. Bei der kleinsten Verfehlung droht ihnen Haft. Staatliche Leistungen erhalten die Familie nicht.

Das Gespräch führte LZ-Redakteurin Cordula Gröne.                                                                                                                                                                                                                                                                                Die Flüchtlingshilfe Lippe ist erreichbar mittwochs 17:30 Uhr bis 19:30 Uhr und freitags 13 bis 17 Uhr, Sedandstraße 20.

 

Berät im Gemeindehaus: Mitarbeiter Frank Gockel (rechts) von der Flüchtlingshilfe Lippe im Gespräch. Foto: Gerstendorf-Welle