Aachen. Er hat immer einen gepackten Koffer in seinem Arbeitszimmer stehen. Man weiß ja nie. Als Enthüllungsjournalist kommt er viel rum, muss oft mal eben weg. Heute muss Günter Wallraff nach Aachen. Der 63-jährige hält die Laudatio für den Aachener Friedenspreisträger, den Verein „Hilfe für Menschen in Abschiebehaft Büren“. Mit ihm sprach unsere Redakteurin Mirja Ibsen.

 

Herr Wallraff, wann kommen sie eigentlich heute an?                                                                                                                                                                                                                                       Wallraff: Ich glaube mein Zug ist so kurz nach 18 Uhr in Aachen. So einfach irgendwo anzukommen davon können Zehntausende illegaler Flüchtlinge nur träumen. Wallraff: Man sollte sich erst einmal in deren Situation versetzt und so etwas wie Empathie entwickeln. Sich also überlegen, wie es einem selbst gehen würde, wenn man in so einer Situation ist. Und ich glaube, dass ganz Urmenschliche muss sein, erst einmal Hilfe zu leisten. Und dann ist auch zu erfahren, was die Hintergründe der risikoreichen und manchmal lebensgefährlichen Flucht sind. Aber man darf sich nicht bürokratisch kalt verhalten und sagen: Da wieder einer zu viel hier.

Angenommen in Menschenrechtsland Deutschland - stimmt diese Aussage für Flüchtlinge?                                                                                                                                                                               Wallraff: Wir sind ein Rechtsstaat mit einer der großartigsten Verfassung, die es gibt. Doch mit allen Regeln und bürokratischen Formalitäten ist das ursprüngliche Grundrecht auf Asyl manchmal zu einem Gnaden - oder gar Willkürrecht deformiert worden, je nachdem, ob die Flüchtlinge einen menschlichen gesinnten Beamten, einem überforderten Bürokraten oder sogar einem Menschenfeind begegnen. In solchen Behörden sitzen manchmal nicht gerade die freundlichsten Exemplare.

Wie sollten Ankommende begrüßt werden?                                                                                                                                                                                                                                                     Wallraff: Sie sollten nicht der Bürokratie überlassen werden. Sie stehen ohnehin unter Schock. Und dann sollten Sie nicht Menschen in die Hände fallen, die nichts anderes in den Köpfen haben, als Europa gegen alles Fremde abzuriegeln.

Wirklich: Festung Europa?                                                                                                                                                                                                                                                                                 Wallraff: Die Politik versucht zurzeit - auch gesamteuropäisch -, die Probleme möglichst weit weg zu schieben, zu verdrängen. Nach dem Motto: Es geht uns nichts an, wer da sein Leben lässt. Wir verlagern das immer weiter von uns weg. Jetzt kommen die Flüchtlinge nicht mehr aus Marokko, weil ein Abkommen geschlossen wurde. Aber was passiert? Die kommen aus Mauretanien. Dann hat man auch mit Mauretanien ein Abkommen gemacht und die Grenzen „gesichert“. Und was bedeutet das? Die Flüchtlinge kommen jetzt über den Senegal, sie sind 2500 Kilometer unterwegs - und noch mehr Menschen sterben. Es werden uns immer nur die Zahlen von den Toten mitgeteilt, die Urlauberstränden geschwemmt werden. Es seien ein paar 100 im Jahr, heißt es. Eine absolute Verdrängungsleistung! In Wahrheit sind es zig, zig Tausende.

Wollten Sie eigentlich schon mal in die Rolle eines Flüchtlings schlüpfen?                                                                                                                                                                                                        Wallraff: Ja, aber ich habe bisher keinen Schlepper gefunden, der mich mitnimmt. Den müsste ich schon einweihen, sonst würde ich über Bord geschmissen. Die Rolle des Afrikaners war äußerlich gelungen, aber wenn sie da auf hoher See entdecket werden … Das Meer ist ein einziger Friedhof. Man sagt, jeder Vierte lässt sein Leben auf der Flucht. Ob er in der Wüste verdurstet oder mit einem kleinen Boot kentert. Ich habe im Urlaub auf den Kanaren gesehen, wie sie in Nussschalen strandeten. Menschen, die sich kaum bewegen konnten, die Glieder steif, der Blick starr.

Wann war das?                                                                                                                                                                                                                                                                                               Wallraff: Vor zwei Jahren. In einem Fall ist es meiner Familie gelungen Flüchtlinge in Sicherheit zu bringen, eine Art Patenschaft zu übernehmen.

Und die Rolle eines Flüchtlings im Lager? Reizt sie die?                                                                                                                                                                                                                                        Wallraff: Es gibt einen italienischen Kollegen, der sich auf meine Arbeit beruft. Der hat sich vor Lapedusa als kurdischer Flüchtling ins Meer gestürzt, wurde aufgefrischt und in so ein Lager verfrachtet. Ein Lager, in dem die gruseligsten Zustände herrschen. Es war nicht nur total überfüllt, er wurde auch noch menschenverachtend drangsaliert.

Passen journalistische Rollenwechsel überhaupt noch in die Zeit?                                                                                                                                                                                                                         Wallraff: Sie sind wichtiger denn je. Mir sind altersgemäß Grenzen gesetzt. Ich war längere Zeit gehandicapt, kann mir jetzt aber wieder einiges zumuten - auch sportlich. Von daher fühle ich mich gefordert, nachdem ich jahrelang ziemlich down war.

Ganz unten?                                                                                                                                                                                                                                                                                                 Wallraff: Ich war jahrelang dem Rollstuhl näher als dem aufrechten Gang. Und bin erst durch eine Operation wieder ans Laufen gekommen.

„So einfach mein Leben wegwerfen will ich nicht.“                                                                                                                                                                                                                                   Günter Wallraff auf die Frage warum er nicht in die Rolle eines Bootsflüchtlinges schlüpft

Ein Resultat ihrer Recherchen?                                                                                                                                                                                                                                                                         Wallraff: Durch die Schwerstarbeit als Türke „Ali“ in einem Stahlwerk von Thyssen, wo wir ohne Staubmassen in Giftsträuben schufteten, wurde nicht nur meine Bronchien geschwächt, ich hatte auch schwerste Knochenprobleme. Über Jahre war ich Schmerzpatient.

Warum glauben Sie, recherchieren so wenig Kolleg auf ihre Art? Sind sie zu feige?                                                                                                                                                                                            Wallraff: Nein, auf keinen Fall. Vor kurzem hat ein junger Kollege, Markus Breitscheidel, mit meiner Unterstützung anderthalb Jahre in Pflegeheimen verbracht und dann das erschütternde Buch: „Abgezockt und totgepflegt“ veröffentlicht. Das hat für ziemliche Aufregung und zumindest in einzelnen Heimen für Verbesserungen gesorgt. Das Buch hat jetzt fast 100.000 Exemplare Auflage, und Breitscheidel ist an einem neuen Thema dran. Ich könnte mir vorstellen, dass er da noch anderes in der Richtung zustande bringt. Aber es ist nicht gerade ermutigend, wenn man hört, welche Kampagnen und Prozesse anschließend losgehen. Das ist zermürbend, auch wenn man die Prozesse schließlich gewinnt.

Haben Sie mehr Zeit vor Gericht als bei der Recherche verbracht?                                                                                                                                                                                                                         Wallraff: Mindestens die gleiche Zeit. Und es ist nervtötend, denn es ist keine produktive Arbeit. Es ist verlorene Lebenszeit, und man steht mit dem Rücken zur Wand, je nachdem welchen mächtigen Gegner man hat. Wir leben in einem Rechtsstaat, das muss ich immer wieder betont. Wir haben unabhängige Gerichte. Aber recht zu haben und Recht zu bekommen - da sind oft Welten dazwischen. Sie brauchen enorme Mittel, einen Langen Atem und gute Anwälte, um ihr Recht auch durchzusetzen.

Gibt es heute mehr Menschen, die ihn auf die Schulter klopfen und sagen „weiter so“, oder mehr die fordernde „Halt die Klappe, Wallraff“?                                                                                                                                                                                                                                                                                                                   Wallraff: Erstens. Das ist ermutigend, denn das war mal anders. Als die „Bild“-Zeitung ihre Hetzkampagne startete, gab es Morddrohungen, ich musste vorübergehend den Wohnort wechseln. Aber das kollektive Gedächtnis lässt sich langfristig nicht so einfach manipulieren. Es kommen oft Menschen auf mich zu, die mir sagen, dass meine Arbeit sie in bestimmten Situationen veranlasst hat, Zivilcourage zu zeigen.

Sind sie jetzt ganz oben, im Establishment, angekommen?                                                                                                                                                                                                                                  Wallraff: In mein Privatleben habe ich mich nicht groß verändert. Ich habe keine Segelyacht, kein dickes Auto. Ich habe ein Kajak. Mein Wagen fahre ich so lange, bis er sich auflöst. Das dauert in der Regel zu zehn Jahre. Zurzeit habe ich einen verbohrten Passat Diesel. Er fährt. Das reicht mir. Bei den Menschen, mit denen ich zu tun habe, interessieren mich die, die nicht dazugehören, nicht die Etablierten, die Einflussreichen. Mehr als die Hälfte meiner Freunde sind Menschen aus anderen Kulturen. Das ist interessanter, spannender, man setzt sich auseinander, streitet sich auch, dass gehört dazu. Wir wohnen gegenüber von einem Asylbewerberheim. Mit ihnen zusammen haben wir unsere Hochzeit gefeiert. Das waren fast 200 Menschen aus aller Welt. Und da erlebe ich mich als Nichttänzer sogar zu afrikanischen Trommeln tanzen.  

Recherchieren Sie derzeit wieder an einem neuen Thema?                                                                                                                                                                                                                                         Wallraff: Ja, jetzt habe ich wieder den Biss, ich fühle mich gefordert. Und da habe ich mir wieder etwas vorgenommen. Dafür brauche ich noch Zeit, da lass ich mich auch nicht unter Druck setzen. Wenn keiner mehr damit rechnet, dann komme ich damit raus.

Sind sie nicht zu bekannt für die Maskerade?                                                                                                                                                                                                                                                     Wallraff: Im Gegenteil. Je bekannter sie sind umso leichter ist es sich durch ein paar Veränderung ummodeln zu lassen. Ich habe einen guten Maskenbildner. Ich sehe dann vielleicht ganz anderen Menschen ähnlich, nicht mehr mir selbst.

Aber sie sind bei sich selbst angekommen?                                                                                                                                                                                                                                                   Wallraff: Ich habe aus einer Identitätsschwäche in meiner Jugend eine Produktivkraft gemacht. Ich war eher schüchtern, fast kommunikationsgestört. Durch die Annäherung an ganz fremde Bereiche und das Erleben von Extremsituation habe ich so etwas wie eine Identität, eine Zugehörigkeit, vielleicht auch ein Selbstbewusstsein entwickelt. Kein übertriebenes, aber mir reicht‘s. Ich bin ein besserer Zuhörer als Antwortgeber.

 

Er hat viele Gefährdete versteckt und ihnen geholfen: Günter Wallraff. Neben heißen Geschichten sammelt der Enthüllungsjournalist ausgerechnet kalte Steine. Heute hält er in der Aachener Aula Carolina um 19 Uhr die Laudatio auf den Aachener Friedenspreisträger. Der Eintritt ist frei. Foto: dpa