06.02.2017

Hamsterrad

Der 27-jährige Amir ist glücklich. Sein Asylantrag ist anerkannt nach zwölf Jahren. Die dreimonatige Kettenduldung kann nicht mehr sein Leben bestimmen. Jetzt kann er etwas ganz Normales planen wie zum Beispiel Studieren. Er recherchierte nach Studienmöglichkeiten für Flüchtlinge in Deutschland.

Er fand im Internet viele Studienmöglichkeiten für anerkannte Flüchtlinge. Sie können sogar ohne Zeugnisse studieren. Sehr verlockend. Die Vorfreude ist so riesig. Das Studium könnte ihm wieder seine Würde stückchenweise zurückgeben. In einem Land, wo die Menschenwürde hoch poliert ist ist sie aber in Wirklichkeit für anders aussehende nicht so glänzend. Das ist Amir klar.

Sein Containerzimmer im Asylheim fühlt sich nicht so schlimm an, die Gerüche von Urin und Essen die von außen unter der Tür hereinschleichen sind fast geruchlos. Er wird nicht mehr in einem geistlichen Gefängnis sitzen, niemand anderes wird jetzt seine Lebensentscheidungen für ihn treffen. Studieren heißt für ihn nicht nur Studieren, es bedeutet Freiheit, Würde und Achtung. Und die Anerkennung, mit der ein fremdes Land bei ihm sehr sparsam umgeht, vielleicht kann er sie bekommen.


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Das Ministerium für Innovation, Wissenschaft und Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen schreibt auf seiner Internetseite;

Bildung und Forschung kennen keine Grenzen. Deshalb unterstützen das Wissenschaftsministerium und die NRW-Hochschulen Flüchtlinge, die in Nordrhein-Westfalen studieren möchten. Diese Internetseite soll eine Orientierungshilfe sein. Interessierte finden hier Informationen sowie Telefonnummern und Kontaktadressen der zuständigen Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner in den Hochschulen.

Sie sind aus Ihrem Heimatland geflohen, mussten Ihr Studium abbrechen oder Ihren Beruf aufgeben? Sie würden gerne in Nordrhein-Westfalen studieren, wissen aber nicht, ob das möglich ist? Die Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner der Hochschulen helfen Ihnen. Sie unterstützen Sie, wenn es um die Voraussetzungen für ein Studium in NRW geht, beraten Sie bei der Frage nach schulischen und sprachlichen Qualifikationen sowie eventuell notwendigen Bildungsmaßnahmen. Sie können Ihnen in der Regel einen Überblick über studienvorbereitende Angebote wie Sprachkurse oder Kurse zum wissenschaftlichen Arbeiten sowohl innerhalb als auch außerhalb der Hochschule geben.

In besonderen Fällen, z.B. wenn Sie aktuell keine Originalzeugnisse über Ihre Schulbildung, Ihr bisheriges Hochschulstudium oder Ihre berufliche Qualifikation vorweisen können, suchen die Kontaktpersonen in den Hochschulen gemeinsam mit Ihnen nach Lösungen


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Amir vereinbarte einen Termin an der Universität bei dem internationalen Büro. Der Termin ist um neun Uhr. Vor lauter Vorfreude konnte er nicht schlafen. Es ist fünf Uhr Morgens. Alle schlafen tief im Flüchtlingsheim außer ihm. Er zog einen blauen Anzug an, den er im Secondhandshop gekauft hat. Mit dem frisch gebügelten weißen Hemd leuchtet der Anzug mehr. „Das ist schick Amir, du sieht jetzt schon wie ein Student aus“, sagte sein Zimmergenosse Massud. Sein Lächeln war am schicksten an diesem Morgen. Er prüfte nochmal alle Unterlage, die er hat; Lebenslauf, Sprachzeugnisse und seinen Ausweis.


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An der Universität

Amir: „Guten Tag, mein Name ist Amir Azami, ich bin ein anerkannter Flüchtling. Ich möchte Studieren, leider besitze ich keine Schulzeugnisse. Die Dokumente sind auf der Flucht verloren gegangen. Aber ich bin bereit alles nachzuholen. Die Sprachprüfung für das Studium habe ich bereits gemacht“, in einem Atemzug mit schnellem Tempo wie ein Soldat, der seinen Bericht abgibt, stellte sich Amir der Universitätsberaterin für Ausländer vor.

Universitätsberaterin: „Haben Sie gar keine anderen Zeugnisse?“

Amir: „Nein, ich habe leider keine anderen Zeugnisse, aber ich bin bereit alles nachzuholen.“

Universitätsberaterin: „Haben Sie in ihrem Heimatland studiert?“

Amir: „Ja, zwei Semester, Sozialwissenschaft, danach bin ich geflohen und meine Dokumente sind verloren gegangen.“

Universitätsberaterin: „Können Sie die Zeugnisse nicht aus ihrem Land beantragen? Mindestens eine Kopie. Per Fax oder per E-mail.“

Amir: „Nein, ich bin geflüchtet. Das geht nicht. Ich bin Flüchtling“, antwortete er verwirrt.

Universitätsberaterin: „Ja ich weiß, aber es muss doch eine Möglichkeit geben, dass Sie Ihre Schulzeugnisse herholen“, sagte sie skeptisch.

Amir: Als Geflüchteter kann ich nicht die Behörden in meinem Land ansprechen. Ich wünschte, es wäre so einfach. Ich habe gelesen, dass anerkannte Flüchtlinge ohne Zeugnisse studieren können.“

Universitätsberaterin:Richtig, Sie sind aber eine Ausnahme. Was möchten Sie studieren?“

Amir: „Ja, deswegen bin ich hier, um zu wissen, welche Möglichkeiten es gibt. Weil ich gar keine Originalzeugnisse für meine Schulbildung habe. Ich möchte Anwalt werden. Dann wäre mein Studienfach Jura. Richtig?“

Universitätsberaterin: „Das ist ja ein Studienfach mit Staatsexamen. Für normale deutsche Abiturienten ist das sehr schwer. Ich fürchte, das ist fast unmöglich für Sie.

Amir: „Wenn ich die Möglichkeit habe, werde ich es versuchen.“

Universitätsberaterin: „Um an einer Hochschule oder Universität studieren zu können, müssen Sie mehrere Voraussetzungen erfüllen. Die wichtigste Voraussetzung ist, dass Sie eine gültige Hochschulzugangsberechtigung besitzen. Das heißt auch kurz Abitur. Sie können auch ohne Abitur studieren, wenn Sie eine abgeschlossene Berufsausbildung und entsprechende Berufserfahrung haben.“

Universitätsberaterin: „Haben Sie eine Berufsausbildung?“

Amir:Nein, ich war Asylbewerber mit Duldung. Es ist schwer, fast unmöglich einen Ausbildungsplatz zu bekommen. Weil, der Ausweis für Flüchtlinge ist meistens auf ein oder drei Monate begrenzt. Viele Unternehmen wollen und können nicht Flüchtlinge einstellen, weil der Status der Flüchtlinge meistens unklar ist. Die Flüchtlinge können jederzeit abgeschoben werden.“

Universitätsberaterin: „Kein Schulabschluss, kein Abitur, keine Berufsausbildung also?“

Amir: „Ja, die Möglichkeit, das alles zu machen, hatte ich als Asylant nicht gehabt. Ich bin bereit, das alles jetzt zu machen. Ich habe gelesen, dass ich ohne Zeugnisse studieren kann“, wiederholte er seine Hoffnung nochmal.

Universitätsberaterin: „Richtig, aber jede Universität hat eigene Voraussetzungen. Die Unterlagen müssen letztendlich nachgereicht werden. Was Sie studieren, ist auch wichtig. Bei uns müssen Sie Abitur schon gemacht haben. Sie wollen Jura studieren. Dazu brauchen Sie auf jeden Fall ein Abitur. Der Notenabschluss muss durchaus sehr hoch sein. Das schaffen normale Deutsche selten. Aber Sie können es versuchen. Sie können zum Beispiel ein Abendgymnasium besuchen und dort ihr Abitur nachholen. Entweder bringen Sie ihre Dokumente aus ihrem Land oder machen Sie einen Abiturabschluss. Versuchen Sie bitte, ihre schulische Ausbildung nachzuholen. Fragen Sie bitte dazu beim Bildungsministerium nach.“

Amir:Ja, ich habe da gefragt und es wurde mir gesagt, dass die Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner der Hochschulen mit helfen, weil jede Universität und Hochschulen eigene Regeln haben, wie Sie es gerade gesagt haben.“


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Beim Abendgymnasium

Amir: „Guten Tag, meine Name ist Amir. Ich bin anerkannter Flüchtling und möchte studieren. Ich möchte dazu mein Abitur nachholen. Welche Möglichkeiten gibt es für Flüchtlinge, die keine Schulzeugnisse vorweisen können?“

Abendgymnasium: „Wir haben keine bestimmten Regeln für Flüchtlinge die gar keine Zeugnisse für die Schulbildung vorweisen können. Außerdem sind Sie schon 27 Jahre alt. Sie sind kein Minderjähriger mehr.“

Amir: „Welche Voraussetzungen gibt es, um das Abitur zu machen?“

Abendgymnasium: „Sie müssen Haupt- oder Realschulabschluss sowie eine abgeschlossene Berufsausbildung oder den Nachweis über eine mindestens dreijährige Berufstätigkeit nachweisen, um das Abitur machen zu können. Haben Sie eine Kopie von ihren Schulzeugnissen? Können Sie ihre Zeugnisse nicht noch einmal beantragen?“

Amir: „Nein, ich bin geflüchtet aus meinem Heimatland. Als Geflüchteter ist es schwer mit den Behörden zu sprechen. Ich war jahrelang geduldeter Flüchtling gewesen. Was ich machen konnte, war nur ein Ein-Euro-Job, keine Ausbildung. Eine Ausbildung konnte ich nicht machen wegen meinem Aufenthaltsstatus.“

Abendgymnasium: „Um Abitur zu machen, brauchen Sie Fachoberschulreife, Abschluss Klasse 10.“

Amir: „Was ist Fachoberschulreife?“

Abendgymnasium: „Der andere Begriff für Fachoberschulreife ist Realschulabschluss.“

Amir: „Was brauche ich, um einen Realschulabschluss zu machen?“

Abendgynasium: „Sie brauchen ein Hauptschulabschluss oder mindestens das Bestehen der 9. Klasse der Sekundarstufe I oder eine abgeschlossene Berufsausbildung. Sie sind eine Ausnahme, das Abendgymnasium ist dafür nicht zuständig. Sie können gar keine Schulzeugnisse nachweisen und deswegen leider das Abendgymnasium nicht besuchen. Fragen Sie bitte bei der Schule in Ihrem Ort nach.“


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Bei der Schule

Amir: „Guten Tag, ich heiße Amir, ich möchte studieren. Um zu studieren, muss ich eine Hochschulzugangsberechtigung, also beispielsweise das Abitur haben. Um Abitur zu machen, brauche ich einen Realschulabschluss. Um einen Realschulabschluss zu machen, muss ich einen Hauptschulabschluss nachweisen. Welche Voraussetzungen gibt es, um einen Hauptschulabschluss zu machen?“

Schule: „Die allgemeine Schulpflicht muss erfüllt sein. Mindestens die 7. oder 8. Klasse müssen Sie besucht haben. Sie können den Hauptschulabschluss beim Abendgymnasium nachmachen.“


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Termin beim Arbeitsamt

Amir: „Ich habe versucht, alle Schulabschlüsse nachzuholen. Aber ohne Schulzeugnisse geht es nicht. Aber mit einer abgeschlossenen Ausbildung kann ich vielleicht den Schulabschluss nachmachen oder sogar studieren. Was brauche ich, um eine Ausbildung zu machen?“

Arbeitsamt: „Ohne Schulabschluss können Sie keine Ausbildung machen. Haupt- oder Realschulabschluss oder eine andere gleichwertige, abgeschlossene Schulbildung benötigen Sie, um eine Ausbildung machen zu können. Außerdem müssen Sie bereits einen Ausbildungsplatz bei einem Unternehmen in Deutschland gefunden haben. Die Bundesagentur für Arbeit hat Ihrer Ausbildung zugestimmt, wenn für die konkrete Stelle keine deutschen oder bevorrechtigten ausländischen Bewerber - zum Beispiel aus anderen EU-Staaten - zur Verfügung stehen.“


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Das Wort „Voraussetzungen“ zerstört unwiderruflich seine Hoffnung, nach zwölf Jahren Warten zu studieren. Es gibt keine Möglichkeiten, sich weiterzubilden oder zu studieren, ohne Voraussetzungen. Es gibt viele Behinderungen und Einschränkungen. Die Behörden, Schulen und Universitäten schieben sich Flüchtlinge wie einen Ball gegenseitig zu. Es gibt keine klare Regeln für die Flüchtlinge, die keine Zeugnisse vorweisen können. Jede Universität und Fachhochschule hat ihre eigenen zementierten Regeln. Amir hat es sich nicht so vorgestellt, dass man nicht einmal einen Hauptschulabschluss ohne Voraussetzungen machen darf.

Was ihm bleibt, ist der Ein-Euro-Job.

 

von: Battsetseg Atkins, voice-for-refugees.de