18.09.2010

Neue Westfälische

Aus Abschiebehaft zur Elite-Uni

Wechselfälle des Lebens des in Löhne groß gewordenen Memet Demir

VON JÜRGEN NIERSTE

Löhne. Sein Fall sorgte in den Jahren 2001/2002 in der ganzen Bundesrepublik für Schlagzeilen. Der damals 18-jährige Kurde Memet Demir, Schüler an der Löhner Bertolt-Brecht-Gesamtschule, sollte abgeschoben werden. Das Herforder Ausländeramt steckte ihn in Abschiebehaft in Büren. Praktisch in letzter Sekunde verhinderte das Oberverwaltungsgericht Münster seine Ausweisung. Nach einer Krankenpflegeausbildung beginnt Memet Demir am 1. Oktober 2010 ein Medizinstudium.

Teils albtraumhaft, teils märchenhaft – so empfindet Demir seine eigene Geschichte. „Erst der jahrelange Kampf mit dem Ausländeramt – und dann, als ich tatsächlich eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung erhielt, kamen die Neo-Nazis“, erzählt der heute 25-Jährige.

Erst waren es Drohanrufe und Beschimpfungen, dann wurde er im Asylbewerberheim an der Bünder Straße zusammen geschlagen. „Die Polizei hat mir das damals erst nicht geglaubt. ,Neo-Nazis gibt’s in Löhne gar nicht’, haben die Beamten gesagt.“

In gewissem Sinne stimmte das wohl auch, denn Memet Demir hatte den Eindruck, dass die Schlägertypen aus dem näheren Umkreis nach Löhne anreisten. Er trug eine blutende Kopfwunde davon.

„Das gipfelte schließlich in einem Brandanschlag auf unser Zimmer. Die Typen haben einen Molotow-Cocktail geworfen“, so Demir. Die Polizei nahm ihm aber auch diese Darstellung nicht ab und schloss schließlich einen „fremdenfeindlichen Hintergrund“ sogar aus.

Memet Demir selbst hat jedoch keinerlei Zweifel, dass hier Neo-Nazis am Werk waren. Deshalb suchte er sich nach dem Abitur, dass er 2004 an der Bertolt-Brecht-Gesamtschule ablegte, so schnell wie möglich einen Wohnsitz weg von Löhne, „damit die Neo-Nazis mich nicht finden.“ Erfolglos. Auch im Kreis Lippe erhielt er schon nach kurzer Zeit wieder Drohanrufe. Für Memet Demir war das ein Grund, seinen Wohnsitz schleunigst abermals zu wechseln.

Dass er angesichts all dieser Umstände überhaupt zunächst das Abitur und ab 2005 seine Ausbildung zum Krankenpfleger schaffte, das hat schon einen Anflug von Unwirklichkeit. „All diese Widerstände spornen mich immer nur an“, sagt er, „ich werde dann besonders ehrgeizig und will es denen zeigen, dass ich besser bin und mehr im Kopf habe als diese Menschen.“

Memet Demir wollte schon immer Arzt werden. Zur Ausbildung als Krankenpfleger entschloss er sich, weil sie ihm bei seiner Studienplatzbewerbung angerechnet wird. „In der 10. Jahrgangsstufe war ich Klassenbester mit einem Schnitt von 1,0. Aber nach all dem Behördenkrieg, Ausweisungsdrohungen und Abschiebehaft habe ich das Abi nur mit 2,5 geschafft.“

Er wollte jedoch unbedingt an eine sehr gute Uni – und das hat er auch geschafft. Am 1. Oktober beginnt sein erstes Semester an einer der angesehensten Medizin-Fakultäten Deutschlands.

„Bei der Einführungsveranstaltung hat uns der Dekan beglückwünscht: ,Ihr seid die Elite, ihr habt es geschafft, bei uns angenommen zu werden.’“ Über diese Äußerung muss er einerseits lächeln, sagt Memet Demir, denn elitär fühlt er sich wirklich nicht – angesichts dessen, was ihm alles widerfahren ist. „Aber ich gebe trotzdem zu, dass so eine Aussage natürlich auch ein Stück Befriedigung für mich ist“, räumt er ehrlich ein.

MemetDemirimSeptember 2010: Optimistisch zum Auftakt seines Medizinstudiums – aber auch gezeichnet von seinen Erlebnissen. Bis heute
lebt er mit einem Belastungstrauma.

 

Hinter Gittern: Memet Demir im April 2002 in Abschiebehaft in Büren.
SeineChancen auf Bleiberecht waren gleich Null. FOTO:NW-ARCHIV

Der Fall Demir in Daten

20. April 2001: Erste Veröffentlichung des Falles. Der NW-Artikel „Schiebt unseren Mitschüler nicht ab“ löst weite Proteste und eine Vielzahl von Leserbriefen gegen Demirs Abschiebung aus.

9. Juni: Der Löhner Stadtrat verabschiedet einstimmig eine Petition gegen Demirs Abschiebung.

4. April 2002: Memet Demir wird fest genommen und in Abschiebehaft gesteckt.

6. April: Mitschüler und solidarische Gruppen stellen vor dem Kreishaus eine Demonstration auf die Beine.

11. April: Der Artikel „Schüler in Abschiebehaft“ erscheint im Politikteil der Neuen Westfälischen und löst weitreichende Proteste aus. Die Bundestagsabgeordneten Wolfgang Spanier und Annelie Buntenbach schalten sich ein. Bundesweit erscheinende Medien greifen den Fall auf.

23. April: Das Oberverwaltungsgericht Münster regt einen Vergleich an. Memet Demir darf vorerst bleiben.

Juni 2004: Memet Demir besteht das Abitur.

H.-W. Hartogs zum Fall Demir

Hans-Walter Hartogs war 2001 wie heute Ordnungsamtsleiter des Kreises Herford und damit verantwortlich für die Ausländerbehörde. „Es gab erhebliche Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Asylgründe und der Flüchtlingsgeschichte“, sagt er. Rechtlich habe es eine feste Handhabe gegeben, Memet Demir auszuweisen. Mit der Verhandlung vor dem Oberverwaltungsgericht Münster sei es dann möglich geworden, humanitäre Gründe den Ausschlag für ein Bleiberecht geben zu lassen. „Zu seiner Ausbildung kann ich ihn nur herzlich beglückwünschen“, sagt Hartogs. (jn)

Peter Voß zum Fall Demir

Der frühere Obernbecker Pfarrer Peter Voß war 2001 Beauftragter des Kirchenkreises Herford für Flüchtlingsfragen. Er setzte sich sehr für ein Bleiberecht von Memet Demir ein. „Das Besondere war, dass er ja ganz allein in die Türkei zurück sollte, als er 18 wurde, obwohl er seit Jahren in Löhne lebte und sein Vater und Bruder hier bleiben konnten“, so Voß. Seiner Meinung nach hat das Ausländeramt seinen Ermessensspielraum nicht ausgeschöpft: „Es hätte Möglichkeiten für eine Aufenthaltsgenehmigung gegeben, ohne dass sich der Fall so sehr zuspitzte“. (jn)